„Akademiker müssen sich auf die eigenen Füße stellen“
Inge Hannemann vor ihrem ehemaligen Arbeitsplatz. / Copyright I. Hannemann

„Akademiker müssen sich auf die eigenen Füße stellen“

Inge Hannemann war Mitarbeiterin eines Jobcenters. Aufgrund ihrer Kritik am Hartz IV-System wurde sie freigestellt. Im Interview spricht sie über jobsuchende Akademiker.

Weil viele unserer Abonnentinnen und Abonnenten von den Hartz IV-Mechanismen betroffen sind, haben wir bei Inge Hannemann nachgefragt. Benjamin O’Daniel sprach mit der Aktivistin über den Umgang mit Arbeitslosen in Deutschland.

Die Politik verkündet seit Jahren konsequent arbeitsmarktpolitische Erfolgsmeldungen. Es gebe immer weniger Arbeitslose, zuletzt war offiziell von 2,9 Millionen die Rede. Was denken Sie, wenn Sie solche Meldungen hören?

Inge Hannemann: Inzwischen ignoriere ich diese Meldungen. Sie verfolgen mich seit 15 Jahren und sind schlicht unglaubwürdig. Die Statistiken sind völlig beschönigt. Wenn man die Menschen dazuzählt, die in Maßnahmen der Arbeitsagentur stecken, haben wir vier Millionen Arbeitslose. Dazu kommen noch die Menschen, die sich nicht melden und sich so durchs Leben schlagen. Deswegen spreche ich davon, dass wir fünf bis sechs Millionen Arbeitslose haben. Plus all die Menschen, die in Minijobs und anderen unwürdigen Arbeitsverhältnissen feststecken.

Sie sagen, Sie kämpfen gegen das „Angstsystem Hartz IV“. Wieso ist es ein Angstsystem?

Inge Hannemann: Zum einen gibt es die Ängste der Erwerbslosen. Mittlerweile gibt es ja keinen Berufsschutz mehr. Das heißt, man muss letztlich die Arbeit annehmen, die von der Arbeitsagentur vorgeschlagen wird. Das setzt jeden Erwerbslosen unter Druck. Denn schließlich muss er befürchten, dass Sanktionen gegen ihn ausgesprochen werden und er Geld gestrichen bekommt.

Aber auch auf der anderen Seite des Schreibtisches gibt es ein Angstsystem. Viele Beschäftigte in den Arbeitsagenturen müssen Zahlen erfüllen – wobei man klar sagen muss, dass dies auch von der jeweiligen Leitung abhängt. Manche Teamleiter sehen auch noch die Menschen, die in die Jobcenter kommen und letztlich Hilfe suchen. Andere sehen nur die Kosten und die Integrationsquote, die erfüllt werden muss. Es muss eine bestimmte Anzahl von Menschen in einen Job vermittelt werden – in welche Jobs konkret spielt eine untergeordnete Rolle.

Ihre Petition zur Abschaffung der Hartz IV-Sanktionen haben über 50.000 Menschen unterschrieben. Im März haben Sie vor dem zuständigen Bundestagsausschuss gesprochen. Was haben Sie sich davon erhofft?

Inge Hannemann: Ich glaube nicht, dass die Große Koalition aufgrund der Petition das Sanktionssystem ändern wird. Aber ich möchte mehr Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Man kann im Zuge dessen zum Beispiel noch einmal auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hinweisen, dass das Hartz IV-Existenzminimum nicht unterschritten werden darf. Schon eine Sanktion, die zehn Prozent des Hartz4-Satzes streicht, ist für viele existenzgefährdend.

Ein Gegenargument ist, dass zwei Drittel der Sanktionen ausgesprochen werden, weil die Arbeitslosen ihre Termine nicht einhalten. Wer noch nicht einmal erscheint, muss eben damit rechnen, dass ihm das Geld gekürzt wird.

Inge Hannemann: Auch ich habe immer darauf gepocht, dass meine Klienten erscheinen. Ich bin der Meinung, dass man durchaus einen Termin wahrnehmen kann. Aber wenn dies nicht geschieht, sollte man erst einmal nach den Ursachen fragen. Manche Menschen haben auch psychische Probleme. Andere sind überfordert, fühlen sich eben unter Druck gesetzt und machen dicht. Einfach das Geld streichen bringt nichts.

Viele unserer Abonnenten sind Geisteswissenschaftler oder Naturwissenschaftler, also Generalisten, die auch nicht sofort eine Stelle bekommen. Manche sind bis zu einem Jahr oder länger arbeitslos – und bekommen von der Arbeitsagentur Jobangebote, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Zum Beispiel Callcenter-Jobs. Wie soll man damit umgehen?

Inge Hannemann: Callcenter-Stellen werden natürlich häufig angeboten, ebenso wie Jobs im Lager/Logistikbereich. Die Agenda 2010 hat ja auch explizit festgelegt, dass jede Arbeit zumutbar ist. Auf der anderen Seite gibt es zwischen der Arbeitsagentur und dem Arbeitssuchenden eine sogenannte Eingliederungsvereinbarung. Und die besagt, dass ein passender Job für ihn gesucht werden muss und nicht irgendeiner. Als Jobsuchender kann man sich auf diese Vereinbarung berufen. Aber letztlich sollte jeder Akademiker aus sich selbst heraus aktiv werden und sich regelmäßig in Eigeninitiative auf Jobs bewerben. Dann sind die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen in der Regel zufrieden. Man muss bedenken, dass die interne Jobbörse nur wenige Tätigkeiten hergeben, von denen man, ohne zusätzliche Gelder z.B. durch das Jobcenter, leben kann.

Woran liegt es, dass manche solche unqualifizierten Jobs angeboten bekommen?

Inge Hannemann: Wenn die Arbeitsagentur jemanden auch nur für einen Arbeitstag vermittelt, wird dies positiv in der Statistik festgehalten. Dazu kommt, dass im System der Arbeitsagentur sehr viele Jobs von Zeitarbeitsfirmen stehen. Erst nach zehn, fünfzehn Seiten kommt man zu den qualifizierten Stellenausschreibungen.

Akademiker müssen sich letztlich auf die Füße stellen und selbst aktiv werden. Die Akademiker, die frisch arbeitslos sind, werden vom jeweiligen Team der akademischen Berufe betreut. Dort machen sich die Mitarbeiter zwar häufig Mühe, sind aber teilweise unterbesetzt.

Viele melden sich auch gar nicht bei der Arbeitsagentur, weil sie befürchten, ein Stigma im Lebenslauf zu haben. Ist das für Sie verständlich?

Inge Hannemann: Ich kann jeden Akademiker auf Jobsuche verstehen, der sich nicht bei der Arbeitsagentur meldet. Insbesondere Hochschul-Absolventen bekommen ja auch häufig gar keine finanzielle Unterstützung von der Arbeitsagentur. Weil sie noch kein Jahr voll berufstätig waren, bekommen sie kein Arbeitslosengeld I. Und weil viele bei ihren Eltern wieder einziehen, weil sie kein Geld haben, bekommen sie auch kein Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Denn sie bilden automatisch eine Bedarfsgemeinschaft und damit müssen in der Regel die Eltern für sie sorgen.

Sie setzen sich für das bedingungslose Grundeinkommen ein. Warum?

Inge Hannemann: Wir haben nicht genügend Arbeitsplätze für alle. Und mit der steigenden Automatisierung werden noch mehr Menschen ihre Arbeit verlieren. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine Vision, die zeigt wohin der Weg gehen könnte. Jeder hat ein staatlich zugesichertes Einkommen und kann machen, was er will – ohne Sanktionen und andere Angstsysteme. Aber dafür brauchen wir einen gesellschaftlichen Wandel. Denn noch sind wir völlig auf Leistung getrimmt, anstatt uns zu fragen, was wir wirklich machen möchten.

Vielen Dank für das Interview!

Zur Person

Im April 2011 begann die Sachbearbeiterin Inge Hannemann nach Feierabend über ihre Arbeit in einem Jobcenter zu schreiben. Ein Jahr später startete sie die Seite „altonabloggt“, ein kritisches Blog zu Hartz IV – und bekam immer mehr Zuspruch. Für ihr Engagement wurde Inge Hannemann mit dem „taz panterpreis“ ausgezeichnet. Mehr zu ihrer Person auf ihrer Seite www.ingehannemann.de oder auf ihrer stark frequentierten, öffentlichen Facebook-Seite www.facebook.com/inge.hannemann

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