Auslaufmodell Gewerkschaft?
Alle auf die Straße: Wenn Arbeitnehmer gemeinsam streiken, zeigt sich ihre Macht. Foto: © juan_aunion / Fotolia.de

Auslaufmodell Gewerkschaft?

Den Gewerkschaften laufen die Mitglieder weg. Werden wir zu einem Land aus Einzelkämpfern? Wie müssen sich Gewerkschaften verändern, um die Wende zu schaffen?

Text: Taalke Nieberding 

Es ist der tiefste Stand seit 1954: Ende des vorigen Jahres zählte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) nur noch knapp 6,1 Millionen Mitglieder. Eine Mitgliederstärke von unter 6,2 Millionen Mitgliedern hatte der DGB zuletzt in seiner Anfangsphase. Nach der Wende lag die Mitgliederzahl 1991 bei über elf Millionen.

Die meisten Mitglieder des gewerkschaftlichen Dachverbandes der DDR, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), waren damals in die DGB-Gewerkschaften übernommen worden. Nahezu alle Arbeiter und Angestellte waren im Osten gewerkschaftlich organisiert. Viele Mitglieder schieden aber schon bald wieder aus, als die ostdeutsche Industrie zusammenbrach. Auch im Westen sind viele Arbeitsplätze in der Industrie und durch die Privatisierung von Bahn und Post weggefallen.

Und heute? Obwohl es laut Statistischem Bundesamt in Deutschland immer mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze und so viele Erwerbstätige wie noch nie gibt: Werden wir ein Land aus Job-Einzelkämpfern?

„Ich beneide meine Journalistenkollegen darum, dass es in ihrer Branche so etwas wie Tarife gibt"

Nur jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland ist heute gewerkschaftlich organisiert, bei den Akademikern sind es sicherlich noch weniger. „Bei meinen Gehaltsverhandlungen kann mir eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht helfen“, meint eine Lektorin, die in einem kleinen Buchverlag angestellt ist. „Ich beneide meine Journalistenkollegen darum, dass es in ihrer Branche so etwas wie Tarife gibt – und sei es nur zur Orientierung für Gehaltsverhandlungen. Wir Buchleute haben da nichts außer völlig unverbindliche Honorarempfehlungen für Freie vom Verband der freien Lektorinnen und Lektoren (VFLL), an die sich kein Verlag hält. Wir müssen gegenüber unseren Arbeitgebern alles selbst verhandeln und inhaltlich begründen.“ 

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Aber es gibt auch die andere Seite. „Bei uns in der Firma rührt der Betriebsrat ordentlich die Werbetrommel – aber Gewerkschaften mag ich irgendwie nicht“, sagt eine junge Geologin, die bei einem Energiekonzern arbeitet, der tarifgebunden bezahlt. „Es gibt sicher einige positive Punkte. Aber die Leute, die Gewerkschaften in den Medien repräsentieren, wirken auf mich anstrengend. Das ist nicht meins.“ Ein Ingenieur für Luftfahrt sagt: „Bisher habe ich nicht über eine Mitgliedschaft nachgedacht. Wir haben in unserer Firma aber einen Betriebsrat, der auch von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) unterstützt wird. Ich finde es gut, dass unsere Interessen als Arbeitnehmer vertreten werden.“

Bei Frauen und jungen Menschen punkten Gewerkschaften kaum

Der Politikwissenschaftler und Gewerkschaftsforscher Samuel Greef erklärt: „Akademiker haben oft die Denke, sie seien schon in einer herausgehobenen, starken Position. Sie sind hochqualifiziert und der Meinung, sie können ihre Interessen selbst vertreten.“ Für Gewerkschaften sei es schwierig, an sie heranzukommen – auch wegen ihrer individuellen Interessen und Lebenswege.

Der anhaltende Mitgliederverlust der vergangenen Jahrzehnte ist vor allem aber auf den wirtschaftlichen Strukturwandel zurückzuführen: Der Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie verloren an Bedeutung. Der Dienstleistungssektor wuchs, aber die kleinbetrieblichen Strukturen erschwerten die Mitgliederorganisation ebenso wie die neuen Beschäftigungsformen Teilzeit, befristete Beschäftigung und Zeitarbeit. Eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) stellte 2015 fest, dass die Gewerkschaften zum Teil zwar wieder Zuwächse verzeichnen konnten, vor allem aber durch männliche Beschäftigte. Bei Frauen und Jüngeren hätten Gewerkschaften bislang weniger gepunktet.

Dabei hänge die Zukunft der Arbeitnehmervertreter von diesen Gruppen ab, mahnten die Forscher. Gelinge es nicht, in Zukunftsbranchen und neuen Berufsgruppen Fuß zu fassen, würden sie nicht mehr als repräsentative Vertretung der Arbeitnehmerschaft wahrgenommen. 

"Junge Menschen befürchten, dass man sie bei der nächsten Gelegenheit gleich in den Vorstand holen will.“

Martin Schwenninger, ehrenamtlicher Landesvorsitzender für den Bereich Forst und Naturschutz in der IG Bau, Agrar, Umwelt (BAU) in Baden-Württemberg und seit 40 Jahren Gewerkschaftsmitglied, sorgt sich: „Uns fehlen junge, innovative Mitglieder!“ Er meint: „Insbesondere junge Menschen haben heute schnell das Gefühl, zu stark vereinnahmt zu werden. Sie fürchten, dass man sie bei der nächsten Gelegenheit gleich in den Vorstand holen will.“

Auch Vereine wie der Naturschutzbund (NABU) hätten ähnliche Schwierigkeiten. Schwenninger glaubt, junge Menschen müsse man heute eher projektbezogen einbinden. Der 58-jährige Förster und staatlich angestellte Ranger (Naturschutzbeauftragte) in der Wutachschlucht, dem „Grand Canyon des Schwarzwaldes“, mag den Dialog mit jungen Menschen und den Kontakt zur Wissenschaft. Er begleitet auch Studierende der Forstwissenschaft, Geografie oder Geologie bei ihren Bachelor- und Masterarbeiten vor Ort im Naturschutzgebiet.

Schon während des Studiums in die Gewerkschaft eintreten?

Er selbst ist mit 18 Jahren während seines Forstingenieurstudiums in die Vorgänger-Gewerkschaft der IG BAU eingetreten, weil sich die Vereinigung damals bildungspolitisch stark engagiert habe und er im Studium unzufrieden war. „Früher habe ich allerdings mehr Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern erlebt.“ Heute sei arbeitsrechtlich vieles ausgefochten und bereits geregelt. Vielleicht fehle deshalb die Motivation, einer Gewerkschaft beizutreten. Dennoch empfiehlt Schwenninger insbesondere Studierenden, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren: „Mitglieder können auch an Exkursionen teilnehmen und sich zum Beispiel für ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung bewerben.“ Die Stiftung des DGB vergibt Studien- und Promotionsstipendien.

Schwenninger gefällt an der Gewerkschaftsarbeit, dass sich in Deutschland die Menschen unterschiedlicher Interessengruppen an einen Tisch setzen, miteinander diskutieren und versuchen, Lösungen zu finden. Stolz ist er darauf, dass Umweltbildung in den Bildungsplänen für Baden-Württemberg verankert wurde, wofür auch er sich in Gesprächen mit dem Kultusministerium eingesetzt habe. Seine Arbeit ist sehr facettenreich: „Wir unterstützen einzelne Mitglieder, etwa auch als Außenstehende bei Konfliktgesprächen über ihre Arbeitsstelle – zum Beispiel bei Mobbingfällen.“ 

  • Rund 80 Gewerkschaften in Deutschland: Gewerkschaften gibt es nahezu in alle Branchen und Wirtschaftszweigen. Der DGB vereint als Dachverband die meisten Mitglieder in acht Gewerkschaften wie zum Beispiel die IG Metall und Dienstleistungsgewerkschaftver.di. Es gibt den Deutschen Beamtenbund (DBB) mit circa 40 Organisationen, die jeweils kleine Beamtengruppen organisieren. Der Christliche Gewerkschaftsbund ist einst als Konkurrent zum DGB entstanden und zählt 16 Gewerkschaften, allerdings mit sehr wenigen Mitgliedern. Hinzu kommen noch 14 kleinere Einzelgewerkschaften, wie etwa die Ärztevereinigung Marburger Bund (MB), der sich 2006 über Streiks das Recht erkämpft hat, eigenständig Tarifverträge abzuschließen.

Berufsverband oder Gewerkschaft?

Gewerkschaften sind die soziale und wirtschaftliche Interessenvertretung von abhängig Beschäftigten. Dazu gehört es, Tarifverträge abzuschließen und damit den Lohn festzulegen. Urlaubsregelungen, Sonderzahlungen wie Weihnachtsgeld, Arbeitsbedingungen zählen auch dazu.Aber Gewerkschaften können auch Berufs- und Fachverbände, Industrieverbände und Betriebsverbände sein. In Berufsverbänden sind Arbeitnehmer nach Berufsgruppen zusammengeschlossen, unabhängig davon, in welchem Wirtschaftszweig sie beschäftigt sind. Reine Berufsverbände nehmen häufig nur eingeschränkte gewerkschaftliche Funktionen wahr und schließen keine Tarifverträge ab.

Netzwerk für Freiberufler

„Als ich mich als Journalistin selbstständig gemacht habe, habe ich mich für eine Mitgliedschaft im Deutschen Journalisten-Verband (DJV) entschieden, erzählt Irina Böhnisch (Name geändert). „Dort konnte ich meinen  Businessplan begutachten lassen, und über Veranstaltungen habe ich Kontakt zu anderen freien Journalisten aus meiner Stadt bekommen.“

Auch von der Rechtsberatung hat Böhnisch profitiert: Einmal hatte sie Schwierigkeiten mit der Redaktion einer Zeitschrift einer Nischensportart und wusste zunächst nicht weiter. Sie hatte über eine Veranstaltung berichtet. Die Redaktion hatte den Text bestellt, die Ausrichtung war besprochen, der Text war abgenommen. Zwei Wochen später, am Tag des Magazindrucks, teilte man Böhnisch mit, dass man doch noch nachträglich einige Passagen gekürzt und zwei, drei neue Sätze hinzugefügt hatte. „Das wäre doch kein Problem? Das Heft ist bereits im Druck“, klingt es ihr noch im Ohr.

Die Community einer Spartensportart ist klein, und man hatte den Veranstalter den Text auch vorab lesen lassen, der einige Passagen anders dargestellt haben wollte. Böhnisch wandte sich an den DJV, welche Möglichkeiten man in solch einem Fall der Urheberrechtsverletzung hat. Die Rechtsabteilung ihres Landesverbandes sicherte ihr zu, ihre Ansprüche zu vertreten. So wurde den Magazinverantwortlichen eine Unterlassungsverpflichtungserklärung abverlangt, den ohne Absprache veränderten Text nicht zu veröffentlichen. Schließlich wurde das Magazin mit dem ursprünglich abgenommenen Text neu gedruckt. „Das hat mein Selbstbewusstsein als Freie gegenüber Redaktionen auf jeden Fall gestärkt“, erzählt sie. Für das Magazin hat sie anschließend nicht mehr gearbeitet.

  • Was kostet eine Mitgliedschaft? Gewerkschaften finanzieren sich über Mitgliedsbeiträge: In der Regel beträgt der Beitrag ein Prozent vom Bruttoeinkommen. Daher stammt der ehemalige Spruch: „Ein Pfennig von jeder Mark – dieser Beitrag macht uns stark.“ Beiträge für Studierende, Erwerbslose oder Mitglieder in Elternzeit sind deutlich niedriger. Allerdings sollten Änderungen des Einkommens bzw. der Lebenssituation rechtzeitig an die Geschäftsstelle durchgegeben werden, da rückwirkend häufig keine Rückzahlungen vorgenommen werden (z.B. Beiträge in der Elternzeit).
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