Als die Arbeitslosen noch faul waren
Jaja, die faulen Arbeitslosen - ein billiges Klischee, mit dem sich gut Stimmung machen lässt. Symbolbild: © Tracy King - Fotolia.com

Als die Arbeitslosen noch faul waren

Ein Journalist hat die Agenda 2010 analysiert. Eine Zeit, in der es wenigstens noch Debatten gab. Ein Kommentar von Benjamin O’Daniel.

Ein wissenschaftliches Werk untersucht eine Debatte, die in der SPD noch heute für Bauchschmerzen sorgt. „Kein Recht auf Faulheit“ heißt die Dissertation von Matthias Kaufmann, die im vorigen Jahr erschienen ist - und über die wir in unserer Redaktionskonferenz diskutiert haben. Kaufmann schreibt als Redakteur im Karriere-Ressort von Spiegel Online. Auf rund 300 Seiten analysiert der Journalist, wie sich innerhalb der SPD der marktliberale Zeitgeist des „dritten Weges“ festsetzte - und sich damit die deutsche Arbeitswelt veränderte. 

Detailliert geht Kaufmann auf die unterschiedlichen Argumente ein, mit denen die Hartz-4-Gesetze untermauert wurden. Ein Beispiel: Gerhard Schröders Interview in der BILD. Dort wurde der Kanzler gefragt, wie es sein könne, dass es vier Millionen Arbeitslose und zugleich 600.000 offene Stellen gebe. Die (gekürzte) Antwort des Kanzlers: „Es gibt kein Recht auf Faulheit. Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden.“

Schröder nutzte die offenen Stellen als Steilvorlage, um Arbeitslosen zu unterstellen, sie wären zu faul und unflexibel für die Arbeit. Dabei ist der „Missmatch“ ein bekanntes Problem: Seit jeher gibt es eine Lücke zwischen offenen Stellen, für die es einfach keine passenden Fachkräfte gibt, und den Arbeitslosen, denen die entsprechenden Qualifikationen fehlen, um die offenen Stellen zu besetzen. Mit Faulheit hat das nichts zu tun.

Hier endet die Buchbesprechung – und wir versuchen, nicht ins Sarkastische abzugleiten.

Was waren das noch für schöne Zeiten, als ein Zigarre rauchender Kanzler seine arbeitslose Bevölkerung abkanzelte? Als es Unterstellungen hagelte, für die Abertausende auf die Straße gingen? Heute sind die Arbeitslosen nicht mehr faul. Sie sind schlicht nicht mehr existent – zumindest in der öffentlichen Debatte.

Auf den Punkt hat dies Karl Schiewerling gebracht, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. „Keine Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahrzehnte war so erfolgreich wie die Politik der Bundesregierung. Rekordzuwächse an Stellen, Rekordhöhe der Beschäftigung. Angesichts der beiden Weltwirtschaftskrisen schauen viele auf das ‚German Job Wunder’, wie es im Ausland anerkennend genannt wird“, sagte er in einem schriftlichen Interview mit dem arbeitsmarkt, das wir kurz vor der Bundestagswahl abgedruckt haben. Was soll man dagegen noch sagen?

Na gut, ein paar Arbeitslose gibt es noch, 2,9 Millionen um genau zu sein. Aber weil es vor zehn Jahren noch über vier Millionen Arbeitslose waren, wird gleich abgewiegelt,  nach dem Motto: Lasst uns mal machen, dann gibt’s bald keine Arbeitslosen mehr. Und tatsächlich: Die Argumentation wirkt. 

"Auch der liberale Zeitgeist von damals ist verflogen. Heute gibt es überhaupt keinen Zeitgeist mehr."

Diese 2,9 Millionen, diese eine große Zahl ist wie ein schwarzes Loch, dass jegliche Debatte aufsaugt und verschwinden lässt. Was ist mit den 7,5 Millionen Minijobbern? Was ist mit den 800.000 Leiharbeitern – über 500.000 mehr als noch vor zehn Jahren? Was ist damit, dass jeder dritte Hochschulabsolvent einen befristeten Arbeitsplatz hat und Kettenbefristungen en Vogue sind? Was ist das für eine Arbeitswelt, in der es laut Stressreport fast 60 Millionen Krankheitstage wegen Burnout und anderen Arbeitskrankheiten gibt – 80 Prozent mehr als noch vor 15 Jahren?

All diese „Details“ sind Auswirkungen der Agenda 2010. Sie lösen zwar vereinzelt Schlagzeilen aus, haben aber keine Kraft für eine öffentliche Bewegung. Montagsdemonstrationen gegen die Agenda-Reform gibt es schon lange nicht mehr. Auf die Straße gehen höchstens noch Stuttgarter Wutbürger, weil ihnen ihr neuer Bahnhof nicht gefällt.

Auch der liberale Zeitgeist von damals ist verflogen. Heute gibt es überhaupt keinen Zeitgeist mehr. Nur noch Nebelschwadenbilder. Morgen könnte schließlich der Euro crashen oder das nächste Land pleite gehen. Das unausgesprochen Signal der Politik: Seid froh, wenn ihr überhaupt einen Job habt. So hält man die Menschen immer noch am erfolgreichsten ruhig.

Matthias Kaufmann: Kein Recht auf Faulheit, Das Bild von Erwerbslosen in der Debatte um die Hartz-Reformen, Springer VS, 39,99,- Euro. 

Wila-ArbeitsmarktDer Artikel ist im arbeitsmarkt Bildung, Kultur, Sozialwesen erschienen. Jede Woche bieten wir eine Übersicht von mehreren hunderten aktuellen Stellen für Geistes- und Sozialwissenschaftler. Außerdem berichten wir in ausführlichen Analysen über die beruflichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt und über berufliche Lebenswege von Akademikern. Mehr Informationen zum Abonnement

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