Geisteswissenschaftler in der Wirtschaft
Kreative Mitarbeiter, moderne Arbeitgeber - und die Geisteswissenschaftler mittendrin. Sieht so die ideale Arbeitswelt aus? Foto: © Monkey Business - Fotolia.com

Geisteswissenschaftler in der Wirtschaft

Als Historiker in die Unternehmensberatung? Als promovierte Philosophin in die Geschäftsführung eines großen Konzerns? Alles möglich, sagen Experten. Jana Degener hat sich umgehört.

Steuerhinterziehung, Umweltskandale, Menschenausbeutung – bei manchen Geisteswissenschaftlern/innen mag „die Wirtschaft“ als geldgierig und verlogen gelten. Auch auf der anderen Seite gibt es vielleicht auch den einen oder anderen Personaler, der Germanisten, Historiker oder Philosophen per se als weltfremd und unqualifiziert abtut.

Aber die Realität zeigt: Viele Geisteswis-senschaftler/innen finden ihren Platz in der Wirtschaft.  

„Bei uns genießen Geisteswissenschaftler eine herausragende Bedeutung, sie machen in vielen unserer Inhaltegeschäfte sicherlich mehr als die Hälfte unserer Belegschaft aus“, sagt zum Beispiel Dr. Nico Rose von Bertelsmann. Das liege natürlich zum einen daran, dass das Medienunternehmen sein Geld mit kreativen Inhalten verdiene: „Es sind häufig Geisteswissenschaftler, die die Zeitschriften und Online-Portale befüllen, die das Fernsehprogramm machen und Filme und Serien produzieren.

Bei Gruner + Jahr arbeiten Journalisten, im Buchbereich viele Lektoren, die in der Regel auch Geisteswissenschaften studiert haben, und um den Bereich Artist Repertoire, also die Kontaktpflege mit Musikern, kümmern sich häufig Musikwissenschaftler“, betont Rose. Im Corporate Center, der Zentrale des internationalen Medienkonzerns, sei die Dichte an BWLern gerade in originär wirtschaftswissenschaftlichen Bereichen wie Controlling oder Steuern zwar größer, doch auch in der Unternehmensleitung von Bertelsmann gebe es Bereiche, in denen überproportional viele Geisteswissenschaftler arbeiten.

"Sein Chef ist promovierter Philosoph"

In der Unternehmenskommunikation sind zum Beispiel (ehemalige) Journalisten, Kommunikationswissenschaftler oder Medienmanager tätig, die eine Mischung aus Kommunikationswissenschaften und BWL studiert haben. Und im Personalwesen arbeiten unter anderem Psychologen. Rose selbst ist als Psychologe in der Managemententwicklung tätig, sein Chef ist promovierter Philosoph, der Chef seines Chefs – der Personalvorstand – ebenfalls promovierter Geisteswissenschaftler.

Darüber hinaus arbeiten in der Abteilung aber auch Kollegen, die einen stärkeren BWL- oder IT-Hintergrund mitbringen. „Die Aufgaben sind vielfältig, so dass wir Mitarbeiter mit vielfältigen Hintergründen haben“, erklärt Rose. Schließlich habe Bertelsmann noch eine eigene Berufsschule und Fortbildungs-Akademien, in denen auch viele Geisteswissenschaftler unterwegs seien. Prinzipiell schließt Rose nicht aus, dass Geisteswissenschaftler selbst in einem klassischen BWL-Bereich wie dem strategischen Controlling eine Chance hätten – sofern sie etwa durch erfolgreiche Praktika entsprechende Erfahrungen nachweisen können. Allerdings, so Rose, hätten die meisten Geisteswissenschaftler daran – zumindest direkt nach dem Studium – kein Interesse, so dass er bisher noch keine derartige Bewerbung bekommen hätte.

"Lotsen in der Wissensgesellschaft"

Andere Unternehmen wie etwa Unternehmensberatungen, Finanzdienstleister oder Automobilkonzerne bieten zwar Produkte und Dienstleistungen, für die Geisteswissenschaftler weniger prädestiniert scheinen als etwa Wirtschaftswissenschaftler oder Ingenieure; sie kommen aber gerade in den Personal- und Kommunikationsbereichen oder im Marketing durchaus auf sie zurück. Und selbst in den Geschäftsführungen oder Vorständen von großen Unternehmen findet man – wenn auch nur vereinzelt – Geisteswissenschaftler.

Dazu kommen Tätigkeitsfelder in neuen, gerade erst entstehenden Bereichen: „Geisteswissenschaftler können eine Lotsenfunktion übernehmen, wenn es darum geht, sich in der komplexen Wissenswelt zu orientieren“, erläutert Prof. Dr. Frank Wießner von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der sich in einer Studie mit den beruflichen Chancen für Geisteswissenschaftler beschäftigt hat. Wenn es etwa um die IT-basierte Archivierung gehe, brauche man nicht nur Programmierer und Datenmanager, sondern auch Geisteswissenschaftler, die das Wissen aufbereiten und wiedergeben.

Gianna Reich, die sich in ihrem Blog geisteswirtschaft.de mit dem Thema beschäftigt, nennt ein weiteres Beispiel: „Wenn Unternehmen in Social-Media-Kanälen vertreten sind oder parallel zur Unternehmenswebsite einen eigenen Blog betreiben, wollen sie ihre Firma nicht nur anhand einiger Fakten vorstellen, sondern Geschichten erzählen, über das Unternehmen, über die Mentalität der Mitarbeiter und über die Projekte, an denen gearbeitet wird. Durch ihr Studium können Geisteswissenschaftler genau das, nämlich eine bestimmte Zielgruppe ansprechen und auch sprachlich rüberbringen, ob sie zum Beispiel erfahrene Unternehmer oder Jugendliche adressieren. Wer darüber hinaus zum Beispiel im Privaten eine Affinität für Facebook und Twitter hat, bringt prima Voraussetzungen mit, um in den Bereich einzusteigen.“

"Das ist unsere Kundendatei, kümmere dich darum"

Darüber hinaus betont Reich, dass Geisteswissenschaftler durch ihr Studium selbstständig arbeiten und Lösungen finden, aber auch mit Quellen umgehen und mit Menschen unterschiedlicher Kulturen umgehen können, ohne ihnen auf die Füße zu treten. Ähnlich sieht das auch Dr. Katja Puteanus-Birkenbach vom Lehrstuhl für Innovationsmanagement und Entrepeneurship der Universität Potsdam: „Vor dem Wechsel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft war Bildung Macht: Institutionen vermittelten den Zugang zu dem Wissen, das notwendig war, um Karriere zu machen.

Heute hat jeder dieses Wissen und Karriere machen können diejenigen, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsbildung mit unsicheren Handlungsfeldern zurechtkommen.“ Entsprechend bekämen die Mitarbeiter in Unternehmen heute Aufgabenstellungen statt Handlungsanweisungen: „Früher hätte der Vorgesetzte dem Mitarbeiter erklärt, wie bestimmte Aufgaben zu erledigen sind. Heute geht er hin und sagt: ‚Dies ist unsere Kundendatei, dies sind unsere Produkte, bitte kümmere dich um den Vertrieb und sorge dafür, dass wir zwanzig Prozent mehr Umsatz als im Vorjahr machen‘.“

Von dieser Entwicklung können in Puteanus-Birkenbachs Einschätzung vor allem Geisteswissenschaftler profitieren, weil sie im Studium das eigenständige Lösen von Problemen lernen und keine Angst vor Unsicherheiten haben: „Wir müssen heute in komplexen Strukturen denken und uns immer wieder in völlig unbekannten Wissens- und Handlungsfeldern behaupten. Genau das lernen Geisteswissenschaftler in ihrem Studium, weil sie sich in Referaten und Hausarbeiten schnell in unbekannte Themen einarbeiten und diese dann präsentieren müssen.“

"Fünf Prozent der Inhalte verwenden, die ich im Studium gelernt habe"

Und das kommt ihnen später dann bei einer beruflichen Tätigkeit in der Wirtschaft zugute: „Wenn ein Literaturwissenschaftler in der Unternehmenskommunikation arbeitet und eine Pressemitteilung schreiben soll, muss er sich nur drei Beispiele ansehen, um den Aufbau zu verstehen und ein Thema, das ihm vorher unbekannt war, in diese Struktur zu übersetzen. Ein Wirtschaftswissenschaftler müsste dagegen vielleicht erstmal einen Kurs machen, weil er es nicht so gewohnt ist, selbst Strukturen zu erkennen und sich selbstständig in ein unbekanntes Thema einzuarbeiten. Und Naturwissenschaftler können wunderbar unter ihresgleichen über ihr Sachgebiet sprechen, aber nicht unbedingt in einer allgemeinverständlichen Sprache. Auch sie brauchen eine klare, vorgegebene Struktur, in deren Rahmen sie sich bewegen können“, meint Puteanus-Birkenbach.

Auch im Marketing und Personalwesen sind Geisteswissenschaftler laut Puteanus-Birkenbach gut aufgehoben, weil sie sich ein Urteil bilden, Ideen entwickeln, Konzeptionen machen, Texte schreiben, Themen präsentieren und mit Menschen umgehen können: „Sie erkennen, ob etwas zur Strategie eines Unternehmens passt. Und sie reden schon als Studenten mehr miteinander, weil in den Geisteswissenschaften häufig nicht so ein Ellenbogenprinzip herrscht wie beispielsweise in den wirtschaftswissenschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Studiengängen.“ 

Auch Rose stimmt dieser Einschätzung im Wesentlichen zu: „In meiner beruflichen Tätigkeit kann ich nur maximal fünf Prozent der Inhalte verwenden, die ich im Studium gelernt habe. Weil die Psychologie aber – zum Beispiel im Vergleich mit der Mathematik – eine relativ junge Disziplin ist, gibt es hier relativ wenig gesichertes Wissen, so dass wir uns immer wieder von verschiedenen Perspektiven aus eine Meinung zu einem Thema erarbeiten mussten.“ Die Fähigkeit, sich tief in ein Thema einzuarbeiten, aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein Thema zu schauen, einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und diesen auch ansprechend zu vertreten, ist sicherlich eine Stärke von Geisteswissenschaftlern, betont Rose. „In der BWL dagegen geht es vielfach eher darum, Theorien zu lernen und anzuwenden. Denn viele Inhalte der BWL sind mehr oder weniger unumstößlich und weniger debattierbar als meinetwegen eine Gedichtinterpretation.“

"Praxiserfahrungen sind wichtiger"

Rose selbst hat sein Psychologie-Studium auch als sehr wertvoll empfunden, weil er hier viele Referate halten musste und so schon sehr früh gelernt hat, Themen aufzubereiten und vor Leuten zu präsentieren: „Auch in meinem Beruf muss ich jetzt häufig Präsentationen so gestalten, dass ich Menschen mit verschiedenen Interessen für ein Thema gewinnen kann“. Andererseits betont Rose, dass diese Fähigkeiten durchaus auch in eher wirtschaftswissenschaftlichen  und naturwissenschaftlichen Studiengängen vermittelt werden: „Ich kenne viele moderne Hochschulen und Fakultäten, an denen die BWL zum Großteil anhand von Gruppenarbeiten und Fallstudien verstehend und erarbeitend unterrichtet wird, so dass die Studierenden lernen, ihre Ergebnisse zu reflektieren und verteidigen. Und auch Soft Skills wie Präsentationsfähigkeiten werden in den verschiedensten Studiengängen vermittelt – je mehr das passiert, desto leichter haben die Leute es später im Job, denn Präsentationsfähigkeiten sind in jeder Position und in jedem Unternehmen wichtig.“ 

Wie die Wirtschaftswissenschaftler und die Naturwissenschaftler sind natürlich auch die Geisteswissenschaftler eine große und sehr heterogene Gruppe, was allgemeingültige Aussagen erschwert. „Es gibt eine Vielzahl an geisteswissenschaftlichen Fächern und Fakultäten, sodass man schlecht von DEM Arbeitsmarkt für DIE Geisteswissenschaftler sprechen kann“, betont Wießner. Absolventen von fremdsprachigen Philologien haben im Studium beispielsweise sicherlich mehr auswendig gelernt als Philosophen, bringen auf der anderen Seite mit ihren Fremdsprachenkenntnissen wiederum aber durchaus passende Kompetenzen mit, die auf dem internationalen Arbeitsmarkt gefragt sind.

"Unternehmensluft schnuppern"

Und selbst wenn es für ein Unternehmen im Zweifelsfall keine Rolle spielt, ob ein Bewerber Romanistik, Geschichte oder Soziologie studiert hat, hängen die Arbeitsmarktchancen natürlich auch und gerade von persönlichen Faktoren wie Interessen, praktischen Erfahrungen und Zusatzqualifikationen ab: „Ich gehe von Geisteswissenschaftlern aus, die ihr Studium gewissenhaft absolviert haben. Aber auch hier gibt es solche, die zum Beispiel mehrere Sprachen mitbringen, mit einem Blog umgehen können oder Programme wie Photoshop oder SAP kennengelernt haben. Das sind Kompetenzen, mit denen man überall anknüpfen und sich für die verschiedensten Bereiche qualifizieren kann“, sagt Reich.

Für Rose ist das Studienfach nur eines unter vielen Kriterien, die bei der Auswahl von Bewerbern eine Rolle spielen, und auch guten Noten sind ihm weniger wichtig als etwa manchen Unternehmensberatungen. Viel wichtiger findet er, welche Praxiserfahrungen die Bewerber gesammelt haben: „Mich interessiert, welche Praktika die Leute gemacht haben. Und sie sollten zeigen, dass sie eine große Leidenschaft für das Produkt, in unserem Fall also für Medien, mitbringen. Wer also Redakteur einer Abizeitung war, nebenbei ein Foto-Blog betreibt oder ein Buch geschrieben hat, hat bei uns gute Chancen.“ Weil Bertelsmann im Corporate Center zurzeit kein Traineeprogramm, sondern vor allem Direkteinstiege anbietet, legt Rose auch Wert darauf, dass seine Bewerber schon „Unternehmerluft“ geschnuppert haben: „Sie sollten eine Vorstellung davon haben, wie so ein großer Konzern tickt, wie man hier auftritt und wie Themen bearbeitet werden.“

Gerne sieht es Rose auch, wenn Bewerber mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund ein gewisses Faible für den Umgang mit Zahlen nachweisen können: „Mit Excel zum Beispiel kommen viele im Studium nicht in Berührung, aber in einem Konzern bekommt man sicherlich mal so eine Tabelle vorgelegt – und sei es nur, weil man ein Budget für ein Projekt festlegen muss.“ Welche Qualifikationen darüber hinaus gefragt sind, das hängt natürlich von der konkreten Stelle ab, auf die sich jemand bewirbt. Puteanus-Birkenbach dagegen ist überzeugt, dass die meisten Geisteswissenschaftler durchaus mit Zahlen umgehen und auch ohne spezielle Kurse oder Seminare eine Einkommen-/Überschussrechnung erstellen können. „Doch für viele Studenten sind Zahlen und Geld als Tabuthemen mit Berührungsängsten verbunden.“ Überhaupt scheinen viele Geisteswissenschaftler den Einstieg in die Wirtschaft nur deshalb nicht zu schaffen, weil sie Vorurteile haben und nicht das nötige Selbstbewusstsein mitbringen.

"In der Wirtschaft etwas Sinnvolles tun"

Puteanus-Birkenbach hat selbst ihren Magister in Kunstgeschichte, Philosophie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gemacht, parallel dazu in einem Verlag gearbeitet und sich noch während des Studiums zur Vertriebsleiterin hochgearbeitet. Heute unterrichtet sie sowohl Geistes- als auch Wirtschaftswissenschaftler. Viele Studierende der Geisteswissenschaften, berichtet sie, können sich nicht vorstellen, in der Wirtschaft zu arbeiten: „Schon zu meiner eigenen Studienzeit vor zwanzig Jahren hatten viele meiner Kommilitonen die Vorstellung, dass in der Wirtschaft nur Haifische herumschwimmen, die sich auf Kosten anderer Menschen persönlich bereichern wollen. Und wenn ich heute meine Studenten frage, ob sie in der Fashion-Industrie arbeiten wollen, dann denken die erstmal an sterbende Kinder in Bangladesch“, erzählt die Dozentin. Dabei würden genau diese Studenten hier gebraucht, weil sie den Unternehmen mit ihrem Denken die ethischen Grundlagen nahe bringen könnten: „Die Unternehmen suchen doch genau solche Querdenker, weil sie in Zukunft mit den Käuferboykotten und ähnlichen Ereignissen einfach nicht mehr überleben können. Die Social and Cultural Entrepeneurship-Szene zeigt schließlich, dass man im Bereich des Ökonomischen wirklich etwas Sinnvolles tun kann“.

Geisteswissenschaftler-in-der-Wirtschaft

"Die Unternehmen suchen doch genau solche Querdenker" / Foto: © Rido - Fotolia.com

Auch Reich bestätigt den Eindruck, dass viele Studierende ein falsches Bild von der Wirtschaft haben: „Es ist schon traurig, wie niedrig die Einstiegsgehälter für Geisteswissenschaftler auch in der Wirtschaft zum Teil sind. Das hinterlässt natürlich einen schlechten Eindruck bei den Bewerbern. Und natürlich kann es sein, dass manche sich in Kultur- oder Medienbetrieben wohler fühlen, weil es ihrem Fach oder ihrer Mentalität mehr entspricht. Andererseits will aber auch keiner arbeitslos sein, und es gibt auch Beispiele für Unternehmen, die gut zahlen und ihre Berufseinsteiger überhaupt gut behandeln: Bei einem gut laufenden Automobilhersteller hat man natürlich bessere Chancen auf ein gutes Gehalt als bei einer Tageszeitung.“ Reich hat sich selbst bei verschiedenen Internetunternehmen beworben und gute Erfahrungen gemacht: „Die Arbeitgeber waren zum Teil begeistert, dass sich nach hundert BWLern auch endlich mal eine Germanistin präsentiert und zeigt, warum sie für den Job geeignet ist.“ 

"Ironische Selbstbemitleidung"

Reich hat allerdings auch die Erfahrung gemacht, dass viele Studierende geisteswissenschaftlicher Studiengänge sich ihrer Chancen zu wenig bewusst sind und sich dementsprechend unter Wert verkaufen:  „Zum einen fehlen die Vorbilder, weil in den Medien, im Umfeld,  manchmal auch an den Hochschulen suggeriert wird, Geisteswissenschaftler hätten es schwer. Überall sieht man Arbeitslosenzahlen, und kaum einer zeigt einem die Möglichkeiten auf, die man tatsächlich hat. Das führt natürlich zur Verunsicherung. Zum anderen ist es so, dass Geisteswissenschaftler natürlich kein klares Berufsziel vor Augen haben, sondern gefordert sind, sich selbstständig zu orientieren. Ich selbst finde das reizvoll, doch viele Studenten scheuen sich davor und setzen sich zu spät mit dem Thema auseinander.“

Wichtig findet Reich, dass Studenten sich frühzeitig ein Bild davon verschaffen, wie die Wirtschaft funktioniert, indem sie beispielsweise Praktika machen, Wirtschaftsmagazine lesen oder Stellenanzeigen auswerten: „Es gibt auch Wirtschaftsmagazine wie Brand Eins, die einem nicht die harten Börsenkurse um die Ohren hauen, sondern zum Beispiel alternative Modelle aufzeigen. Und in Stellenanzeigen kann man erfahren, was der Arbeitsmarkt verlangt, was man selbst dazu beiträgt und welche Fähigkeiten man sich im Studium noch aneignen muss, damit der Einstieg besser gelingt.“  Wenn Geisteswissenschaftler wissen, was ihre Arbeit wert ist, dann sind sie vielleicht auch in Gehaltsverhandlungen erfolgreicher: „Wenn man dagegen froh ist, dass man überhaupt einen Job hat, strahlt man das im Gespräch mit dem Vorgesetzten auch aus“, meint Reich.

Leider komme es stattdessen aber zu häufig vor, dass Studenten sich selbstironisch bemitleiden: „Ich kenne keinen Geisteswissenschaftler, der den Witz mit dem Taxifahrer nicht kennt. Und manche denken wirklich, das sei ihre Zukunftsperspektive. Ich habe meinen Blog auch deshalb ins Leben gerufen, weil ich mir wünsche, dass Geisteswissenschaftler mehr Selbstbewusstsein haben, zu sagen, was sie können.  Schließlich kämen andere – zum Beispiel die meisten Wirtschaftswissenschaftler – im Studium nicht auf die Idee, an sich zu zweifeln.“ Von Personalleitern großer Unternehmen kann man angesichts der vielfältigen Ausbildungslandschaft nicht erwarten, dass sie die Stärken einzelner geisteswissenschaftlicher Studiengänge kennen. Vielmehr ist es Aufgabe jedes einzelnen Bewerbers, seine Stärken zu präsentieren und deutlich zu machen, in welchen Bereichen er arbeiten kann. „Doch das widerspricht der Mentalität vieler Geisteswissenschaftler, die Selbstdarstellung als etwas Negatives empfinden“, sagt Reich.

Reich würde sich auch wünschen, dass an den Hochschulen mehr Dozenten aus der Wirtschaft unterrichten – was in den Wirtschaftswissenschaften gang und gebe, in den Geisteswissenschaften dagegen wenig verbreitet ist: „Wenn jemand aus einer Agentur ein Seminar zur Unternehmenskommunikation gibt und dabei auch von seinem Berufseinstieg und Berufsalltag erzählt, können die Studenten tolle Einblicke bekommen.“

Den Studenten selbst empfiehlt sie, sich schon früh auf interessante Stellenangebote zu bewerben, um den Ablauf zu üben und gelassen in die ersten Vorstellungsgespräche gehen zu können: „Selbstpräsentationen und Gehaltsverhandlungen lernt man nur, wenn man in die Situation hineingeht. Je öfter man das macht, desto besser klappt das auch.“ Außerdem könne man zur Vorbereitung entsprechende Kurse nutzen, die die CareerCenter, die Hochschulgruppen und die Bundesagentur für Arbeit an den Hochschulen oft kostenlos anbieten. Puteanus-Birkenbach empfiehlt Studierenden darüber hinaus, sich an der Uni oder im privaten Bekanntenkreis einen Mentor zu suchen, der sie in monatlichen Treffen dabei begleitet, sich über den eigenen Wert bewusst zu werden und dies mündlich wie schriftlich zu artikulieren.

Das macht den Einstieg leichter – und wenn der erst einmal geschafft ist, können Geisteswissenschaftler in die verschiedensten Branchen der Wirtschaft hineinwachsen. „Bei uns kommt es immer wieder vor, dass Geisteswissenschaftler in die höheren Führungsebenen oder in die Geschäftsführungs- und Vorstandsebene aufsteigen. In diesem Prozess werden sie von uns mit Seminaren begleitet, so dass sie die neuen Aufgaben erfolgreich bewältigen können“, erläutert Rose.

Puteanus-Birkenbach ist überzeugt, dass derzeit ein Paradigmenwechsel stattfindet, der dazu führt, dass immer mehr Personalentwickler in Unternehmen gezielt nach Geisteswissenschaftlern suchen. Und auch Reich ist sicher, dass der viel beschworene Fachkräftemangel sich auch für Geisteswissenschaftler positiv auswirken wird – vorausgesetzt, sie verlieren ihre Berührungsängste und lernen, zu sagen, was sie können.

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