„Mehr Flexibilität ist nicht die Lösung”
Stichwort Kita-Ausbau: Längere Kita-Öffnungszeiten könnten Eltern entlasten, sodasss sie sich nicht im Homeoffice um die Kinder kümmern müssen. In Deutschland fehlt aber auch eine grundsätzliche Debatte über Arbeitszeiten.

„Mehr Flexibilität ist nicht die Lösung”

Für Eltern ist es schwer, Job und Familie unter einen Hut zu bringen. Bessere Vereinbarkeit sei keine Aufgabe der Arbeitgeber, sondern des Staates, sagt Nina Sueße.

Interview: Annika Schneider

Interessant fände Nina Sueße beispielsweise nach der Promotion eine Stelle im Personalbereich anzunehmen. Foto: privat

Nina Sueße hat Betriebswirtschaftslehre in Köln studiert. Anschließend absolvierte sie einen Master in International Political Economy am King’s College in London. 2015 begann sie, ebenfalls in London, zum Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu promovieren. Vor wenigen Wochen hat sie ihre Promotion erfolgreich abgeschlossen und geht nun in Köln auf Stellensuche.

WILA Arbeitsmarkt: Für Ihre Promotion haben Sie vier Jahre lang zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf geforscht. Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis, das Sie auf dieses Thema gebracht hat?
Nina Sueße: Mehr als eines. Im Gedächtnis geblieben ist mir ein Mentoring-Day während meiner Bachelorzeit in Köln. Ein Netzwerk von Wissenschaftlerinnen hat Vorträge, Workshops und Diskussionen mit beruflich erfolgreichen Frauen präsentiert. Ich hatte ein Career-Event zum Netzwerken erwartet und war total perplex, als im Laufe des Tages Frauen, die eigentlich über ihren Karriereeinstieg reden sollten, sagten: „Vieles davon war Zufall, und mein Hauptproblem ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Karriere konnte ich nur machen, weil mein Mann sich um die Kinder gekümmert hat oder weil ich meine Mutter in der Nähe hatte.“ Mit 22 hat mich das total irritiert.

In Ihrer Studie geht es vor allem um die Verfügbarkeit von Zeit in Familien. Ist dazu schon viel geforscht worden?
Im Prinzip schon, denn bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht es ja letzten Endes um Zeit. Die Wohlfahrtsstaatsforschung betrachtet beispielsweise die Effekte, die politische Maßnahmen auf die Zeitverteilung zwischen Arbeitsplatz und Familie haben. Das Thema wird allerdings häufig auf Makroebene betrachtet, also relativ abstrakt – weniger auf der Alltagsebene.

Ihr Ansatz war es, Familien direkt zu befragen.
Mir ging es um Leute, die lokal agieren und somit die größeren Diskurse aus den Medien und der Politik vor Ort umsetzen. Ich habe mit Eltern, Erziehern und Kita-Leitungen gesprochen, aber auch mit Kindertagespflegern, Elternvertretern und Väteraktivisten. Außerdem habe ich Menschen in der Stadtverwaltung befragt, die für die Kita-Platzvergabe verantwortlich sind. Einen Kita-Platz zu finden ist in Deutschland eines der größten Themen für Eltern.

"Junge Frauen stehen schon fast „unter Generalverdacht“, sie könnten Mutter werden."

Betrifft das Problem Männer und Frauen in unterschiedlichem Ausmaß?
Ja. Ursache dafür ist ein kultureller Erwartungsmechanismus. Viele Männer nehmen heute Elternzeit, aber selten mehr als zwei Monate. Genau das erwarten Arbeitgeber auch. Das Praktische ist, dass man zwei Monate gut über Urlaubsvertretungsregelungen abdecken kann. Viele Väter orientieren sich ganz bewusst an Zeiten, in denen weniger Projekte stattfinden oder ihre Abwesenheit für das Unternehmen angenehm ist.

Frauen hingegen nehmen häufiger zwölf Monate Elternzeit. Der Arbeitgeber muss den Ausfall kompensieren, indem er jemanden einstellt. Das führt dazu, dass junge Frauen schon fast „unter Generalverdacht“ stehen, sie könnten Mutter werden. Personalerinnen haben mir gesagt, dass diese Vorbehalte nicht zwingend von den Personalabteilungen kommen, sondern häufig von den direkten Vorgesetzten. Die sind am Ende des Tages diejenigen, die die Arbeit umverteilen und Konflikte zwischen den Kollegen besänftigen müssen. Es ist nachvollziehbar, warum es bei Unternehmen diese Hemmnisse gibt.

"Wenn ein Vater Angst hat, bei seinem Arbeitgeber sechs Monate Elternzeit zu beantragen, obwohl er ein Recht darauf hat, dann entsteht ein Klassenkonflikt."

Beim Thema Vereinbarkeit werden oft die Arbeitgeber in die Pflicht genommen: Die müssten die passenden Bedingungen schaffen, heißt es.
Arbeitgeber sind insofern „schuld“, als dass ein großer Teil des Vereinbarkeitsproblems kein Geschlechter-, sondern ein Klassenkonflikt ist. Wenn ein Vater Angst hat, bei seinem Arbeitgeber sechs Monate Elternzeit zu beantragen, obwohl er ein Recht darauf hat, dann entsteht ein Klassenkonflikt. Dahinter steht die Frage nach der Zeitverteilung: Wie viel Zeit hat ein Mensch für sich selbst und für Familie, Vereine, Eltern, Freunde? Und wie viel Zeit hat er für den Job?

In den letzten zehn Jahren haben wir eine Flexibilisierung der Jobs erlebt. Arbeit ist somit für Menschen schlechter vorauszusehen und schwieriger zu planen. Und weil die Arbeit für viele dann doch vorgeht, wird es schwieriger, das Privatleben zu planen. Der Klassiker ist der Vater, der zu spät zur Ballettaufführung seiner Tochter kommt oder es gar nicht schafft, weil er irgendein Projekt hat. Mehr Zeitflexibilität für Arbeitnehmer schafft häufig Konflikte in der Privatsphäre.

"Wenn Unternehmen die Zeitpläne von ihren Mitarbeitern so glätten, dass sie eben nicht immer für den Kunden verfügbar sind, ist das ein Wettbewerbsthema."

Studien zeigen immer wieder, dass mehr Flexibilität dazu führt, dass Menschen mehr arbeiten.
Mehr Flexibilität ist nicht die Lösung. Durch individuelle Flexibilität wird die Planbarkeit letzten Endes nicht besser, weil die Stundenpläne aller Menschen dann noch beliebiger sind. Stattdessen wäre es wichtig zu diskutieren: Müssen wir Arbeitszeiten nicht wieder stärker begrenzen oder zumindest im Vorfeld planen? Das ist für Unternehmen natürlich ein Wettbewerbsrisiko.

Wenn Unternehmen die Zeitpläne von ihren Mitarbeitern so glätten, dass sie eben nicht immer für den Kunden verfügbar sind, ist das ein Wettbewerbsthema. Die Unternehmen wollen ja nicht aus Böswilligkeit ihre Mitarbeiter kontrollieren, sondern stehen in einem nationalen und internationalen Wettbewerb. An dem Punkt ist es wichtig, Wettbewerb zu gestalten, und das kann nur ein Staat.

Warum sehen Sie den Staat in der Pflicht?
Er hat das demokratische Mandat dazu und die geschlechtsübergreifende Macht, die Situation zu ändern. In Skandinavien hat der Staat die Vätermonate der Elternzeit immer weiter ausgeweitet. Das heißt aber nicht, dass es dort keine Konflikte gibt. In Norwegen beispielsweise gibt es Väter, die die Elternmonate, die sie nicht an ihre Frau abgeben können, trotzdem nicht nehmen, weil sie Angst um ihre Karriere haben. Aber man macht es Eltern deutlich einfacher, die eigenen, familienbezogenen Interessen zu wahren. In Skandinavien nehmen Väter deutlich mehr Elternzeit als hier. Dadurch entsteht über Jahrzehnte ein Kulturwandel.

Hin zu einer Gesellschaft, in der Väter mehr Verantwortung übernehmen?
Ja. In Skandinavien ist es zum Beispiel schon unüblich, nach 15 Uhr ein Meeting zu haben – damit Eltern nach Hause gehen und sich vielleicht später noch mal einloggen können. Deutsche Eltern, die skandinavische oder osteuropäische Kollegen haben, haben mir von deren Kulturen erzählt. Dort legt man den Teil der Arbeit, den man gemeinsam mit anderen im Büro verrichten muss oder möchte, in eine gewisse Kernzeit, die durch die Kinderbetreuung abgedeckt ist. Gleichzeitig gibt es eine größere Akzeptanz dafür, wenn man um vier nach Hause gehen muss.

Einer deutschen Mutter kann es passieren, dass sie belächelt wird nach dem Motto: „Jetzt legt sie die Füße hoch.“ Sie selber denkt: „Jetzt fängt mein Tag erst an, weil meine Kinder ein bisschen anstrengender sind als meine Kollegen.“ Das heißt allerdings nicht, dass es in Skandinavien nicht auch Probleme gibt. Zum Beispiel sind in Schweden sehr viele Frauen in staatlichen und öffentlichen Berufen angestellt. Unternehmen, die auf Profit fokussiert sind, stellen in gewissen Bereichen weniger Frauen ein. Man soll nicht glauben, dass die Skandinavier alle Probleme gelöst haben.

"Für mehr Vereinbarkeit und mehr Planbarkeit brauchen wir mehr Zeitressourcen in der Pflege."

Was könnte der deutsche Staat denn tun?
Oft liest man „Vereinbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind für Unternehmen kein Konflikt, sondern eine Win-Win-Situation“. Das ist ganz häufig Quatsch. An dem Punkt will der Staat Verantwortung abgeben. Für mehr Vereinbarkeit und mehr Planbarkeit brauchen wir mehr Zeitressourcen in der Pflege: Pflege für alte Menschen, aber auch für Kinder und in sozialen Bereichen. Da ist in den letzten Jahrzehnten viel gekürzt worden.

Wenn Frauen mehr arbeiten, muss die Arbeit, die sie vorher unentgeltlich zu Hause gemacht haben, von jemand anderem übernommen werden – Stichwort Kita-Ausbau und Professionalisierung in der Pflege. Aber die Ressourcen reichen nicht aus, um Leute zu motivieren, diese Berufe zu wählen. Deutschland ist im internationalen Vergleich weit hinterher, weil Krankenschwestern und Erzieherinnen immer noch Ausbildungsberufe sind und als solche bezahlt werden.

Von Arbeitgebern fordern Sie, Arbeitszeiten einzugrenzen. Haben sich das auch die Menschen gewünscht, die Sie für Ihre Studie interviewt haben?
Viele haben ein Problem mit Kita-Öffnungszeiten. Eine Lösung könnte es sein, die Öffnungszeiten zu erweitern. Man kann das Problem aber auch andersherum sehen und stattdessen die Arbeitszeiten begrenzen. Wie man das auslegt, ist im Grunde eine politische Frage. Viele sagen, dass sie schlecht vorausplanen können und immer eine Stechuhr im Nacken haben.

Gleichzeitig können sie am Arbeitsplatz im Wettbewerb um Beförderungen oder Ähnliches nicht mithalten. Gegenüber Kollegen entstehen oft Schuldgefühle, sobald man in Elternzeit geht oder Arbeitsstunden reduzieren will. Die Kollegen müssen dann die eigene Arbeit mitmachen, weil das Unternehmen keine zusätzlichen Leute einstellen kann oder möchte.

"Es fehlt in Deutschland eine grundsätzliche Debatte zum Thema Arbeitszeiten."

Wie lässt sich das lösen?
Längere Kita-Öffnungszeiten wären überall dort sinnvoll, wo Menschen in Schichten arbeiten. Kitas vor Ort, die 24 Stunden offen haben, erleichtern den Beschäftigten die Vereinbarkeit. Alternativ könnten Eltern mit kleinen Kindern ein Recht auf eine Tagschicht haben. Für kranke Menschen gibt es dieses Recht ja schon, warum nicht für Eltern?

Es fehlt in Deutschland eine grundsätzliche Debatte zum Thema Arbeitszeiten. Denn viele Menschen arbeiten ja deutlich mehr als 40 Stunden. Kann man die Arbeit nicht anders verteilen? Vielleicht mit einem Recht darauf, keine Überstunden zu machen? Die Arbeitgeberverbände würden erst einmal auf die Barrikaden gehen. Aber diese Debatten sind notwendig, um langfristig eine für viele Menschen angenehmere Lebensform gesellschaftlich zu verankern.

Ein Problem ist es, überhaupt einen Kita-Platz zu bekommen. Ein anderes ist es, wenn die Kinder dann in die Grundschule kommen und auf einmal schon mittags nach Hause kommen.
Das ist auch ein Problem im Timing von Reformen. Elterngeld kann man relativ schnell umsetzen, da geht es ja letztendlich nur um Zahlungsverkehr. Aber für den Kita-Ausbau braucht man Infrastruktur: Personal und Grundstücke, was im Innerstädtischen ein Riesenproblem ist. Und man muss überlegen, welche Qualitätsstandards man setzen will, die für Familien attraktiv sind. Diese Prozesse brauchen viel Zeit. Man kann nicht immer nur sagen, der Staat sei viel zu langsam – so einfach ist das nicht. Es fehlen langfristig Ressourcen.

"Eine isolierte Paarfamilie und Alleinerziehende haben nicht die Ressourcen."

Heißt das, dass die Überforderung der Eltern vor allem strukturelle Ursachen hat?
Dahinter stecken ganz klar tiefliegende, strukturelle Gründe. Auf der anderen Seite sind es aber auch Erwartungen. In unserer Generation erwarten Frauen, gleichberechtigt zu sein und ökonomisch abgesichert und unabhängig zu sein. Die Strukturen dafür haben wir aber nicht. Alles unter einen Hut bringen zu wollen, geht nicht – zumindest nicht für jeden.

Eltern, deren eigene Eltern um die Ecke wohnen, können gewisse Arbeitspakete in ihrem Alltag einfach outsourcen, ohne dafür groß bezahlen zu müssen. Aber eine isolierte Paarfamilie und Alleinerziehende haben nicht die Ressourcen. Das klingt vielleicht nicht besonders tröstlich, aber manchmal hilft es, sich zu sagen: Man muss vielleicht nicht immer alles schaffen. Man kann beruflich so weit auf eigenen Beinen stehen, dass man ein Auskommen hat, aber ohne zu erwarten, groß Karriere zu machen und dabei fünf Kinder zu haben – ohne externe Hilfe funktioniert das nicht.

"Frauen in weniger gut bezahlten Berufen bleiben deutlich länger zuhause und haben mehr Kinder."

Betrifft das Problem Menschen mit und ohne akademischen Abschluss gleichermaßen?
Nein. Meine Studie fokussiert sich auf Akademikerinnen und Akademiker, weil die die Hauptzielgruppen der Reformen der letzten zehn Jahre waren. Sie betrifft dieser Konflikt am meisten, weil sie die höchsten Erwartungen haben. Menschen mit geringerem Bildungsstand sind für ihren Arbeitgeber oft ersetzbarer, und ihre Gehälter deutlich niedriger. Für sie ist der Job meist weniger erfüllend. Dazu gibt es historisch gewachsen im eher konservativen Deutschland Strukturen, die es für einkommensschwächere Familien attraktiver machen, ein traditionelles Modell zu wählen. Infolgedessen bleiben Frauen in weniger gut bezahlten Berufen deutlich länger zuhause und haben mehr Kinder.

Warum ist das Thema Vereinbarkeit so wichtig?
Mit zunehmendem Fachkräftemangel werden die Konflikte um Zeitressourcen in den nächsten Jahrzehnten immer intensiver werden. Das muss ein ganz großes politisches Thema werden, um den Lebensstandard von arbeitenden Menschen zu stabilisieren.

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