Die nützliche Mär vom  Fachkräftemangel
Finden Unternehmen tatsächlich keine qualifizierten Fachkräfte oder bemühen sie sich einfach nur nicht genug? Schließlich sind für Bewerber/innen auch die Rahmenbedingungen ein entscheidender Faktor bei der Jobsuche.

Die nützliche Mär vom Fachkräftemangel

Allen empirischen Befunden zum Trotz findet das Gerede vom Fachkräftemangel kein Ende. Krischan Ostenrath vermutet dahinter eine Strategie der Arbeitgeber.

Kommentar: Krischan Ostenrath

Wohl alle unserer aktuellen und ehemaligen Leser/innen – und nicht nur die – haben Erfahrungen mit Niederlagen. Man will eine Stelle haben, sieht sich allen Anforderungen gewachsen, zeigt sich von der besten Seite – und wird doch nicht genommen.

Das passiert täglich ein paar Tausend Mal auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Doch kein Mensch würde auf die Idee kommen, aus dem individuellen Kampf um eine vernünftige Arbeitsstelle ein generelles Problem zu machen, mit dem sich dringend mal die Bundesregierung beschäftigen muss.

Wenn aber der potenzielle Arbeitgeber seine Interessenvertretung mobilisieren kann, dann wird aus einer nicht besetzten Stelle möglicherweise doch ein Politikum. Dann ist die Vakanz kein bedauerlicher Einzelfall, sondern ein Indikator für einen flächendeckenden Fachkräftemangel. Mindestens. Wenn nicht gar ein Indikator für das Versagen unseres gesamten Bildungssystems, das offenbar nicht in der Lage ist, dem Arbeitgeber die besten Fachkräfte zuzuliefern.

Fehlen Millionen Fachkräfte?

Ob im Gesundheits- und Pflegewesen, in der Bauwirtschaft, bei der Bundeswehr oder in der Sozialen Arbeit, in der Umwelttechnologie oder neuerdings sogar bei Mutter Kirche – Fachkräftemangel, soweit das Auge reicht. Noch beeindruckender ist es natürlich, wenn man der Öffentlichkeit hierzu auch ein paar Zahlen liefern kann. So lässt sich der Deutsche Industrie- und Handelskammertag gerne mit seiner Untersuchung „Fachkräfte gesucht wie nie!“ zitieren.

Jedes zweite Unternehmen könne offene Stellen längerfristig nicht besetzen, betroffen davon seien 1,6 Millionen Positionen. Die Expert/innen von Prognos errechnen gar eine Fachkräftelücke von 3,3 Millionen bis zum Jahr 2030. Und natürlich darf in den Reihen der Mahnerinnen und Mahner auch das Institut der deutschen Wirtschaft nicht fehlen, das bereits seit Jahren darauf verweist, dass allein im MINT-Bereich knapp 240.000 Fachkräfte fehlen.

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Die eigentliche Pointe dieser Zahlenwerke folgt regelmäßig auf dem Fuße und unterscheidet sich nur je nach Größe der Interessenvertretung. Aus der Schwierigkeit, Ausbildungsplätze zu besetzen, folgt natürlich, dass man dringend über die Qualifikation der Schulabgänger/innen nachdenken müsse. Dass im ländlichen Raum kaum jemand arbeiten möchte, lässt sich selbstverständlich nur mit einem gewaltigen Infrastrukturprogramm für die Regionen beheben.

Wenn vornehmlich in Niedriglohnsektoren mehr Arbeitsplätze als Fachkräfte zu verzeichnen sind, dann hat sich die Bundesregierung gefälligst darum zu kümmern, dass vermehrt Fachkräfte aus der Europäischen Union und Drittstaaten rekrutiert werden können. Und wenn die Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch im 21. Jahrhundert noch stark zu wünschen lässt, dann ist das nur mit massiven Mehrinvestitionen der öffentlichen Hand in die bestehenden Betreuungs- und Pflegesysteme zu schaffen.

Strukturell ist die Argumentation beinahe immer die gleiche: Aus einem bestehenden Problem wird ein Strukturproblem gemacht, das mit eigener Kraft auf keinen Fall zu lösen ist.

Schwierigkeiten ja, Mangel nein

Denn natürlich gibt es Probleme in der Besetzung von Arbeitsplätzen. Nur spricht nicht besonders viel dafür, dass wir es hier mit einem strukturellen Fachkräftemangel zu tun haben. Mal ganz abgesehen davon, dass es keinen eindeutigen Indikator für einen solchen gibt, war und ist es eine sehr verwegene Argumentation, aus Besetzungsproblemen in einigen Regionen, Betrieben oder Branchen ein generelles Problem zu machen. Man muss wirklich kein linker Träumer sein, um im sich nun schon seit Jahren wiederholenden Lied vom Fachkräftemangel eine bewusste Strategie zu sehen.

„Rent Seeking“ nennt die Ökonomie eine Methode, die darauf abzielt, nicht die eigenen Ressourcen für die Lösung eines Problems einzusetzen, sondern die einer anderen Akteursgruppe. Denn schließlich wäre ja eine mögliche (und vielleicht sogar naheliegende) Konsequenz aus einem mutmaßlichen Fachkräftemangel, die Gehälter attraktiver zu gestalten. Aus der Tatsache, dass genau dieses nicht geschieht, folgt dann auch das Gegenargument, beispielsweise des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, die gewerkschaftsnah ist: Eigentlich gebe es überhaupt keinen Mangel an Fachkräften. Es gebe lediglich einen Mangel an Zahlungsbereitschaft.

Die Autor/innen dieser Konter-Studie zur DIHK-Untersuchung machen aus ihrem Ärger gegenüber der ständigen Rede vom Fachkräftemangel kein besonderes Geheimnis. Der objektivere und somit wohl bessere Kronzeuge ist das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). In dieser Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit wird regelmäßig eine sogenannte „Fachkräfteengpassanalyse“ vorgelegt, die die wesentlichen Indikatoren rund um Stellenbesetzungsprobleme zusammenfasst.

Ja, es ist für Unternehmen heute schwieriger, ihre Stellen zu besetzen. Wo früher neun Bewerber/innen auf eine Stelle kamen, sind es heute nur noch zwei. Aber es sind eben immer noch zwei – die Zahl der verfügbaren Fachkräfte übersteigt das Stellenangebot um mehr als das Doppelte. Auch die Zeit bis zur endgültigen Besetzung einer Stelle hat sich innerhalb von nicht einmal zehn Jahren auf mehr als drei Monate verdoppelt.

Das sagt aber nicht viel mehr aus, als dass Arbeitgeber sich mehr anstrengen müssen als bisher – aus Besetzungsschwierigkeiten folgt eben noch kein flächendeckender Fachkräftemangel. Einen solchen sieht das IAB lediglich in einigen ländlichen Räumen, im Gesundheits- und Pflegebereich, in einigen technischen Berufsfeldern sowie in einigen Bauberufen.

Somit ist offensichtlich, dass das Gerede vom Fachkräftemangel nicht nur falsch, sondern wohl auch Strategie der Arbeitgeber ist, um für die optimale Stellenbesetzung so wenig wie möglich zu investieren. Vor allem ist damit auch klar, dass die überwältigende Mehrheit der Fachkräfte – unter ihnen auch die Leser/innen des WILA Arbeitsmarkt – von Besetzungsschwierigkeiten nie betroffen sein werden, sondern völlig zu Recht das generalisierte Gerede vom Fachkräftemangel als einen Schlag ins Gesicht wahrnimmt.

Denn natürlich gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, mit denen auch die Arbeitgeberseite auf Engpässe reagieren könnte – es wäre nur einfach deutlich aufwendiger als die Zuständigkeit an andere zu verweisen. Schließlich gibt es ein ungenutztes Potenzial von mehr als drei Millionen Arbeitssuchenden, unter ihnen übrigens mehr als eine Million Fachkräfte auf Experten- und Spezialistenniveau.

Es gibt auch unter wirtschaftlichem Druck die Möglichkeit, die Beschäftigungsbedingungen – und ja, auch die Gehälter – so zu gestalten, dass die Bewerberzahlen wieder größer werden. Es gibt auch durchaus mehr innovative Rekrutierungswege als die durchschnittlich 2,5 Kanäle, die Arbeitgeber bei ihrer Suche aktuell bemühen. Es gibt die Möglichkeit, die Auswahlverfahren auch für die „zweite Wahl“ wie Quer- oder Berufseinsteiger/innen zu öffnen.

Und mit Blick vor allem auf den öffentlichen Dienst gäbe es durchaus Möglichkeiten, Befristungen gerade in der Phase des Berufseinstiegs zu umgehen oder gar systematisch auszuhebeln. Das alles wären Maßnahmen, die spiegelbildlich auf die Anstrengungen der Arbeitnehmerseite reagieren würden. Denn für Arbeitssuchende ist es schon längst eine Selbstverständlichkeit, ihre eigene „Attraktivität“ zu erhöhen – sei es durch Qualifizierung, Mobilitätsbereitschaft oder notfalls durch Gehaltsabstriche.

Ein Affront für Jobsuchende

Mein Ärger über die ständig wiederkehrenden Debatten um die Chimäre eines flächendeckenden Fachkräftemangels entzündet sich nicht so sehr am Zweifel daran, dass es Betriebe und Verwaltungen heute schwerer hätten, ihre Stellen ordentlich zu besetzen. Auch über methodisch schwache Tendenzstudien und öffentlichkeitswirksame Statements könnte man noch schmunzelnd hinwegsehen.

Und selbst über Forderungen an die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen ließe sich nachdenken. Aber so zu tun, als hätte man mit den Ursachen von Besetzungsschwierigkeiten überhaupt nichts zu tun, ist ein Affront gegen jede Fachkraft, die trotz Eignung und Willen keine Stelle findet.

Was im Übrigen nicht nur eine Frage des Anstands, sondern vor allem der unternehmerischen Klugheit wäre: Statt sich aus der Verantwortung zu stehlen und die Zuständigkeit für Besetzungsschwierigkeiten bei Dritten zu suchen, wäre es um ein Vielfaches klüger, die real existierenden Matching-Probleme gemeinsam und auch unter Einsatz der eigenen Ressourcen anzugehen. So machen es die Fachkräfte ja schließlich auch.

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