Gelingt Inklusion am Arbeitsmarkt?
Es gibt Fortschritte: Immer mehr Menschen mit Behinderung finden einen Arbeitsplatz. Trotzdem liegt die Erwerbsquote erst bei 43 Prozent – ein Anfang.

Gelingt Inklusion am Arbeitsmarkt?

Das Recht auf Arbeit ist ein Menschenrecht – auch in der Praxis? Die Rehabilitationssoziologin Frau Prof. Dr. Wansing sieht eine Verbesserung, doch nach wie vor Handlungsbedarf.

Interview: Sarah Kröger 

Gudrun Wansing ist Professorin für Rehabilitationssoziologie und Direktorin des Zentrums für Inklusionsforschung Berlin. Foto: Martin Ibold

WILA Arbeitsmarkt: Wie weit ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt bereits fortgeschritten?
Prof. Dr. Gudrun Wansing: Alle Menschen haben ein Recht auf Arbeit. Gleichzeitig haben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Chancen, dieses Recht zu verwirklichen. Geschlecht, Nationalität, Migrationshintergrund, Bildungsabschluss und auch eine Beeinträchtigung oder Behinderung wirken sich auf die Teilhabemöglichkeiten am Arbeitsmarkt aus.

Für die Bevölkerungsgruppe der Menschen mit Behinderungen lassen sich keine pauschalen Aussagen treffen, denn auch sie sind verschieden. Menschen mit Behinderungen unterscheiden sich zum Beispiel nach Art und Umfang der Beeinträchtigungen und auch nach dem Zeitpunkt, zu dem die Behinderung im Lebensverlauf erworben wurde. Es ist ein bedeutsamer Unterschied, ob ich mit einer Beeinträchtigung geboren werde und häufig schon von Geburt an ungünstigere Chancen im Hinblick auf Bildung und Arbeit habe oder ob ich die Behinderung im höheren Lebensalter, zum Beispiel infolge einer chronischen Erkrankung, erwerbe. Dann habe ich vielleicht schon Bildungsabschlüsse erworben und war möglicherweise über viele Jahre erwerbstätig.

Zudem haben auch in der Gruppe der Menschen mit Behinderungen das Geschlecht, ein Migrationshintergrund oder der Bildungsabschluss einen Einfluss auf die Chancen am Arbeitsmarkt. Mir ist es wichtig, deutlich zu machen, dass es „die Menschen mit Behinderungen“ am Arbeitsmarkt nicht gibt. Man muss sehr genau hinschauen.

"Die Erwerbsquote liegt immer noch sehr niedrig, bei 43 Prozent."

Auch wenn man nicht von einer homogenen Gruppe sprechen kann: Wie haben sich die Chancen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt entwickelt?
Die Daten, die wir zur Erwerbsbeteiligung von Menschen mit Behinderungen haben, sind Daten von Menschen mit einer Schwerbehinderung. Die Schwerbehindertenstatistik, die auch den Daten der Bundesagentur für Arbeit zugrunde liegt, umfasst aber nicht alle Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern nur jene, die auch eine rechtlich anerkannte Schwerbehinderung haben. Das betrifft aber schon den größten Teil der Gruppe. Ein wichtiger Indikator ist die Arbeitslosenquote.

Hier gibt es seit einigen Jahren eine positive Entwicklung: Die Anzahl der Arbeitslosen und die Arbeitslosenquote sinken. Trotzdem bleibt die Arbeitslosenquote der schwerbehinderten Menschen weiterhin einige Prozentpunkte über der Arbeitslosenquote von Menschen ohne Behinderungen. Sie liegt aktuell ungefähr bei 11 Prozent, im Vergleich zu einer allgemeinen Arbeitslosenquote von 5,9 Prozent. Zudem ist der Anteil an Langzeitarbeitslosen sehr viel höher. Ein weiterer positiver Trend ist das Steigen der Erwerbsquote. Sie gibt den Anteil der schwerbehinderten Menschen im erwerbsfähigen Alter an, die dem Arbeitsmarkt überhaupt zur Verfügung stehen. Trotzdem liegt sie immer noch sehr niedrig, bei 43 Prozent.

"Möglicherweise steigt auch das Bewusstsein von Arbeitgebern, dass Behinderung nicht automatisch „nicht qualifiziert“ und „nicht leistungsfähig“ heißt."

Welche Gründe gibt es für diese positiven Entwicklungen?
Auch Menschen mit einer Schwerbehinderung profitieren von dem wirtschaftlichen Aufschwung und der positiven Arbeitsmarktentwicklung in den letzten Jahren insgesamt, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie Menschen ohne Behinderungen.

Ein weiterer Grund könnte die Digitalisierung sein, die für viele Menschen mit Beeinträchtigungen günstige Möglichkeiten für die Teilhabe am Arbeitsleben schafft. Es gibt immer mehr digitale Arbeitsbereiche, die nicht bestimmte körperliche Leistungsfähigkeiten voraussetzen und mit entsprechenden Hilfsmitteln gut ausgeführt werden können. Möglicherweise steigt auch das Bewusstsein von Arbeitgebern, dass Behinderung nicht automatisch „nicht qualifiziert“ und „nicht leistungsfähig“ heißt.

Interessant finde ich auch, dass die Anzahl von Anträgen auf Kündigung Schwerbehinderter bei den Integrationsämtern gesunken ist. Das bedeutet, dass die Arbeitgeber schwerbehinderte Menschen offenbar längerfristiger beschäftigen. Auch hier kann ein Grund die insgesamt günstige Arbeitsmarktentwicklung sein, aber es könnte auch die Zufriedenheit der Unternehmen mit den schwerbehinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausdrücken.

Was gibt es noch für Entwicklungen, die die Inklusion von Menschen auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen?
Ein weiterer wichtiger Indikator ist die Beschäftigungsquote. Wir haben in Deutschland eine gesetzliche Beschäftigungspflicht. Arbeitgeber, die mindestens 20 Arbeitsplätze haben, müssen 5 Prozent davon mit schwerbehinderten Menschen besetzen. Diese Beschäftigungsquote wird seit Jahren nicht erreicht.

Aktuell liegen wir insgesamt bei 4,6 Prozent. Der Trend ist sogar geringfügig rückläufig. Es gibt aber Unterschiede bei den Arbeitgebern: Öffentliche Arbeitgeber übertreffen die Beschäftigungsquote mit 6,5 Prozent, während die privaten darunter liegen, aktuell bei 4,1 Prozent. Insbesondere kleine und mittlere Betriebe tun sich offenbar schwer damit, die Beschäftigungsquote zu erreichen.

Was hat die Forschung noch zur Lage behinderter Menschen am Arbeitsmarkt herausgefunden? 
Eine weitere interessante Erkenntnis ist, dass in der Gruppe der schwerbehinderten arbeitslosen Menschen der Anteil der beruflich gut qualifizierten Personen höher ist als in der Gruppe der arbeitslosen Menschen ohne Behinderungen. Es gibt offenbar noch ein größeres Potential von qualifizierten schwerbehinderten Menschen, das nicht ausgeschöpft wird. Von allen Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung – das sind im Moment ungefähr 7,9 Millionen in Deutschland – haben nur 3 Prozent seit der Geburt eine Beeinträchtigung. Somit ist ein großer Anteil der Menschen auch gut qualifiziert.

Die meisten erwerben ihre Schwerbehinderung im Laufe des Arbeitslebens, zum Teil sogar am Arbeitsplatz. Sie kehren dann zum Beispiel im Rahmen eines Wiedereingliederungsmanagements auf ihren Arbeitsplatz zurück. Viel schwieriger ist die Teilhabe am Arbeitsmarkt für Personen, die sich mit einer Schwerbehinderung neu bewerben. Diejenigen, die schon von Geburt an mit einer Beeinträchtigung leben, sind häufig geringer qualifiziert. Oft gehen sie auf Förderschulen und verlassen diese ohne Schulabschluss. Infolge haben sie geringe Chancen auf eine betriebliche Ausbildung und im Anschluss kaum Chancen auf Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt.

"Es fehlt noch viel an Information und Aufklärung, auch was andere Rechte schwerbehinderter Menschen angeht."

Im Arbeitsverhältnis haben schwerbehinderte Beschäftigte viele Rechte, die sie in Anspruch nehmen dürfen. Könnte das im Umkehrschluss auch eine Einstellungshürde bei den Unternehmen bedeuten? 
Das Problem ist, dass Arbeitgeber häufig nicht gut informiert sind, was die Rechte von Menschen mit Behinderungen betrifft. Zum Beispiel glauben uninformierte Arbeitgeber manchmal, dass sie schwerbehinderte Beschäftigte nicht mehr kündigen können. Das stimmt aber nicht, der Kündigungsschutz beinhaltet die Pflicht, vor einer Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen. Es gibt nur wenige Fälle, in denen ein Arbeitgeber einen schwerbehinderten Menschen zum Beispiel betriebsbedingt kündigen wollte und das am Ende nicht tun konnte. Da fehlt es noch viel an Information und Aufklärung, auch was andere Rechte schwerbehinderter Menschen angeht.

Zudem gibt es auch ein großes Spektrum an Unterstützungsleistungen zur beruflichen Rehabilitation und Teilhabe, um im Einzelfall passende Lösungen zu finden. Das sind zum Beispiel technische Anpassungen am Arbeitsplatz, Geld-Leistungen wie Eingliederungszuschüsse für den Arbeitgeber, aber auch die Integrationsfachdienste, die vermitteln und Jobcoaching am Arbeitsplatz machen. Leider werden diese Instrumente nicht immer gut und passend umgesetzt. Da muss man nicht nur kritisch auf die Arbeitgeber schauen, sondern auch auf die entsprechenden Rehabilitationsträger.

Beratung zu beruflichen Themen für Menschen mit Behinderung
 
In Deutschland sind die Rehabilitationsträger (z.B. Bundesagentur für Arbeit, Rentenversicherung, Unfallversicherung…) und die Integrationsämter erste Anlaufstelle für Menschen mit Schwerbehinderung. Sie unterstützen zum Beispiel auch bei der Antragstellung von Zuschüssen oder Sachleistungen und beraten zu beruflichen Themen: www.integrationsaemter.de
 
Die Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstellen (EUTBs) unterstützen und beraten bundesweit Menschen mit Behinderungen und sind unabhängig. Oft werden hier Peer-Counselor eingesetzt, es beraten also Menschen mit Behinderungen andere Menschen mit Behinderung: www.teilhabeberatung.de

Woran fehlt es da? 
Wichtige Träger für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind zum Beispiel die Bundesagentur für Arbeit, die Rentenversicherungsträger oder die Eingliederungshilfeträger. Inklusion am Arbeitsmarkt gelingt dann gut, wenn man sich individuell auf die Person einstellt: Was sind ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten, Schwächen? Man muss personenzentriert vermitteln und nicht pauschal oder maßnahmenzen­triert – das gelingt noch nicht immer. 

Wir haben ein sehr kompliziertes Rehabilitationssystem, in dem im Einzelfall mehrere Rehabilitations-Träger zuständig sein können. Damit die berufliche Rehabilitation und die Teilhabe am Arbeitsleben gelingen und die unterschiedlichen Leistungen passend im Einzelfall zusammenwirken, müssen sich die verschiedenen Träger gut koordinieren und absprechen. Das wird mit dem neuen Bundesteilhabegesetz zwar gesetzlich gut geregelt, aber in der Praxis nicht immer ausreichend umgesetzt.

"Unser Arbeitsmarkt funktioniert nicht nach inklusiven, sondern nach exklusiven Maßstäben."

Gibt es im Arbeitsalltag noch weitere Hürden für behinderte Beschäftigte? 
Ja, das sind einmal sozialpsychologische Barrieren, wie zum Beispiel Vorurteile oder Ängste von Arbeitgebern oder Kolleginnen und Kollegen. Zudem braucht man auch eine gewisse Flexibilität seitens der Arbeitgeber. Ich denke da zum Beispiel an Menschen mit psychischer Erkrankung – je nach Krankheitsbild ist die Leistungsfähigkeit nicht immer gleichbleibend. Da ist die Frage, wie flexibel Arbeitgeber sind und ob sich die Kolleginnen und Kollegen auf eine ungleiche Leistungsfähigkeit einstellen können. 

Unser Arbeitsmarkt funktioniert nicht nach inklusiven, sondern nach exklusiven Maßstäben. Es werden nur die Personen zugelassen, die den ökonomischen Kriterien der Wettbewerbsfähigkeit und der Leistungsfähigkeit entsprechen. Personen, die diese Kriterien erfüllen, können an Erwerbsarbeit teilhaben, alle anderen werden ausgegrenzt.

Was müsste sich in Zukunft verändern, damit die Inklusion von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt noch besser gelingt? 
Es gibt in Deutschland schon viele rechtlich gesicherte Instrumente und Maßnahmen, um Inklusion und Teilhabe zu ermöglichen. Was fehlt, ist ein Bewusstsein für und eine Wertschätzung der Fähigkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen. Zudem ist Erwerbsarbeit nach wie vor zentral für Anerkennung, Zugehörigkeit und Teilhabe. Wenn sich aber abzeichnet, dass es langfristig nicht gelingen wird, alle Menschen über Erwerbsarbeit an der Gesellschaft teilhaben zu lassen – dann bleibt für mich die Frage: Wie kann man gesellschaftlich die Funktionen, die Arbeit hat, auch jenseits von Erwerbsarbeit vermitteln?

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