Inklusion darf kein Zufall sein!
Der Weg in den regulären Arbeitsmarkt ist für Menschen mit Behinderung nicht barrierefrei. Das liegt häufig auch an den Vorurteilen, die Arbeitgeber haben.

Inklusion darf kein Zufall sein!

Menschen mit Behinderungen wird oft geraten, in einer Behindertenwerkstatt zu arbeiten, sagt Anne Gersdorff vom Verein Sozialhelden und selbst Rollstuhlfahrerin. Sie empfiehlt, sich auf dem regulären Arbeitsmarkt zu bewerben.

Interview: Sarah Kröger

Anne Gersdorff setzt sich mit „JOBInklusive“ für Inklusion im Bereich Arbeit und Bildung ein. Foto: Andi Weiland, Gesellschaftsbilder.de

WILA Arbeitsmarkt: Wie inklusiv ist unsere Arbeitswelt in Deutschland aktuell? 
Anne: Gersdorff: Unsere Arbeitswelt ist noch nicht wirklich inklusiv, denn die meisten Menschen mit Behinderungen landen nie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern in einem starren System von Sondereinrichtungen. Menschen mit Behinderungen gehen oft in eine Förderschule, werden danach in Berufsbildungswerken ausgebildet und arbeiten dann in vielen Fällen in Behindertenwerkstätten.

Ganz oft führen diese Wege aber nicht in die inklusive Arbeitswelt. Das heißt, einmal in der Behindertenwerkstatt, verlassen die allermeisten sie nicht mehr. Auf der anderen Seite wissen Betriebe auch oft nicht, wie Inklusion gelingen kann. Wenn sie Menschen mit Behinderungen einstellen möchten, haben sie mit großen bürokratischen Hürden zu kämpfen. Da werden Personen teilweise von Ämtern Steine in den Weg gelegt, von denen man eigentlich denkt, dass sie die Inklusion doch umsetzen sollen!


 
„In den Behindertenwerkstätten für ihre Arbeit bekommen Menschen mit Behinderungen aber nur ein Taschengeld, das lange nicht an den Mindestlohn heranreicht. “
 

 

Sie raten Menschen mit Behinderungen also eher ab von dem klassischen Weg – Ausbildung im Berufsbildungswerk, Stelle in einer Behindertenwerkstatt? 
Ja, denn weder im Berufsbildungswerk noch in der Behindertenwerkstatt wird Inklusion gelebt. Dort gibt es nur Menschen mit Behinderungen. Menschen ohne Behinderungen sind Betreuer*innen, Pädagog*innen oder Anleiter*innen. Es existiert ein klares Machtgefälle, wer für wen da ist. Zudem sind die Ausbildungen in den Berufsbildungswerken qualitativ nicht so hochwertig wie in betrieblichen Kontexten. Das wissen Unternehmen natürlich auch, und somit sinken die Chancen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

In den Behindertenwerkstätten produzieren Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen Waren für fast alle Wirtschaftszweige, zum Teil auch für große Unternehmen der Wirtschaft. Dafür bekommen sie aber nur ein Taschengeld, das lange nicht an den Mindestlohn heranreicht. 


 
„Es gibt immer noch viele Vorurteile, zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderungen oft krank sind oder nicht so leistungsfähig. Ganz vielen wird das aber nicht gerecht.“
 

 

Mit welchen Hürden haben Menschen mit Behinderungen zu kämpfen, wenn sie sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewerben?
Ganz oft werden Menschen mit Behinderungen in Stellenausschreibungen nicht angesprochen, oder es fehlen Angaben zur Barrierefreiheit. Auch werden sie teilweise in Recruiting-Prozessen, die computergestützt sind, aussortiert, weil sie vielleicht eine Fehlzeit haben oder das Studium oder die Ausbildung ein bisschen länger gedauert hat.

Gleichzeitig gibt es immer noch viele Vorurteile, zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderungen oft krank sind oder nicht so leistungsfähig. Ganz vielen wird das aber nicht gerecht. In meinem medizinischen Gutachten steht zum Beispiel: „ist voraussichtlich häufiger krank“. Das bin ich aber gar nicht. In den letzten zwei Jahren war ich genau eine Woche krankgeschrieben. Denn meine Arbeit ist sehr gut an meine Bedürfnisse angepasst. Im Homeoffice ist es für mich weniger anstrengend, ich kann mir meine Zeit relativ frei einteilen und mit meinen Ressourcen gut haushalten.  


 
„Rückblickend betrachtet habe ich meine Jobs immer durch Kontakte bekommen, selten habe ich mich klassisch initiativ beworben. Das müssen viele Menschen mit Behinderung lernen.“
 

 

Warum sind Sie nicht, wie viele andere, in einer Behindertenwerkstatt gelandet? 
Ich war erst auf einer Förderschule und wechselte später auf eine inklusive Schule. Viele meiner behinderten Mitschüler*innen gingen jedoch nach der 10. Klasse in ein Berufsbildungswerk. Das hat sich damals für mich schon komisch angefühlt. Ich habe dann Abitur gemacht und ein Praktikum in einer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderungen angefangen. Dort habe ich später auch nach dem Studium als Sozialarbeiterin angefangen zu arbeiten.

Rückblickend betrachtet habe ich meine Jobs immer durch Kontakte bekommen, selten habe ich mich klassisch initiativ beworben. Das müssen viele Menschen mit Behinderung lernen. Viel zu oft nehmen sie noch das, was ihnen seitens der Agentur für Arbeit serviert wird. Das ist dann meistens eine Sondereinrichtung. Hätte ich mich damals auf die Empfehlungen der Behörden verlassen, hätte ich wahrscheinlich nicht studiert und wäre vielleicht auch in der Behindertenwerkstatt.

Allerdings kannte ich damals schon Menschen mit Behinderungen, die in einer eigenen Wohnung lebten, arbeiten gingen oder studierten. Ich hatte also Vorbilder. Und ich hatte sehr viel Glück, dass meine Eltern sich gut informieren konnten und gut vernetzt waren. Aber es kann nicht sein, dass gelingende Inklusion davon abhängig ist, wie die Familie aufgestellt ist. Das müssen wir ganz dringend ändern.

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