
Psychotherapie per Videotelefonie
Die Digitalisierung in der Psychotherapie bringt Vorteile, aber auch Herausforderungen mit sich. Fachkräfte sollten wissen, wann und wie Online-Therapien durchzuführen sind.
Text: Janna Degener-Storr
Seit den coronabedingen Kontaktbeschränkungen und Lockdowns haben wir gelernt, unsere Aktivitäten ins Internet zu verlagern. Das gilt auch für Psychotherapeut*innen. „Vorher boten die meisten psychotherapeutischen Praxen kaum Videosprechstunden im System der Gesetzlichen Krankversicherungen (GKV) an, und wenn überhaupt, dann nur vereinzelt. Viele Patientinnen und Patienten sind dann in der Pandemie nicht mehr zur Therapie erschienen, und auch wir selbst waren unsicher, ob wir noch in Präsenz arbeiten sollten, erzählt die psychologische Psychotherapeutin Susanne Berwanger.
Sie hat eine Kassenpraxis in München und engagiert sich berufspolitisch als Vorsitzende des Verbands Psychologischer Psychotherapeuten des BDP e.V. Für die Psychotherapeut*innen, die als heilkundlich Tätige im System der gesetzlichen Krankenkassen zugelassen sind, sei das Format jetzt fest etabliert. Allerdings dürfen sie nicht alle Therapietermine online stattfinden lassen; der Anteil ist begrenzt.
Gesetzliche Vorgaben
Kolleg*innen, die beispielsweise psychologische Beratungen oder Gesundheitskurse anbieten – von der Raucherentwöhnung bis zum Entspannungstraining – oder die als Heilpraktiker*innen psychotherapeutisch arbeiten und ihre Leistungen nicht über die gesetzlichen Krankenkassen abrechnen, sind da freier und können ihre Angebote teilweise auch komplett im virtuellen Raum unterbreiten. Darüber hinaus gibt es Anbieter, die sich gezielt auf die Online-Therapie spezialisiert haben. Das Unternehmen Minddoc zum Beispiel arbeitet ausschließlich über das Internet und rechnet trotzdem über Krankenkassen ab, mit denen dafür ein Vertrag abgeschlossen wurde.
Das Angebot steht nur Patient*innen der kooperierenden privaten Krankenversicherungen, Patient*innen der Beihilfe sowie Selbstzahler*innen zur Verfügung. „Das Erstgespräch findet vor Ort statt – mit einer Gesprächspartnerin oder einem Gesprächspartner einer kooperierenden Praxis“, erklärt Anna Schmied, die als psychologische Psychotherapeutin bei Minddoc für die fachlichen Schwerpunkte Depressionen, Zwangs- und Angststörungen sowie Essstörungen zuständig ist und ein Team leitet. Die 34-Jährige hat sich 2019 – also schon vor Corona – gezielt für diese Arbeit in einer Online-Praxis entschieden. „Damals war das noch ein sehr innovatives Projekt mit dem Ziel, ein Zusatzangebot für die Patientinnen und Patienten zu schaffen, die häufig sehr lange auf einen Therapieplatz warten müssen. Es gab keine anderen Anbieter für Online-Therapien in dem Format“, sagt sie.
Wie viel online tut gut?
Virtuelle Psychotherapie-Sitzungen können nicht nur in Pandemiezeiten Vorteile mit sich bringen. Das findet auch Susanne Berwanger. Dennoch ist sie davon überzeugt davon, dass persönliche Kontakte in der Psychotherapie nach wie vor „der Goldstandard“ sind und nur in Einzelfällen durch Videositzungen ergänzt werden sollten. Wenn Patientinnen und Patienten zum Beispiel aus anderen Gründen nicht in die Praxis kommen können, etwa wegen einer orthopädischen Erkrankung, könne das eine gute Alternative sein, oder im Fall eines Umzugs von Patientinnen oder Patienten.
Manchmal sei es auch sinnvoll, Online-Sitzungen oder spezielle Tools gezielt in die Therapie zu integrieren, etwa für Expositionsübungen. „Zum Beispiel wenn eine Patientin in der eigenen Wohnung bestimmten Zwängen ausgesetzt ist, gehe ich als Therapeutin mit ihr zunächst persönlich in die Situation und schleiche diese Unterstützung dann nach und nach aus. An einem gewissen Punkt kann es sinnvoll sein, die Betroffene hier nur noch mithilfe von Videotechnik zu begleiten“, erklärt sie.
Anna Schmied dagegen sieht generell keine Nachteile in der reinen Online-Therapie. Sie verweist auf zahlreiche Studien, die den Erfolg belegen, und betont, dass die Arbeit im virtuellen Raum inzwischen vielerorts bereits Teil der Ausbildung von Psychotherapeut*innen sei. „Die Patientinnen und Patienten sparen sich die Anfahrtszeiten. Auch ich selbst bin sehr flexibel bei der Terminplanung – zumal die meisten Absprachen mit Kolleginnen und Kollegen auch online stattfinden – und kann mir während der Therapiesitzungen direkt Notizen in meinem Dokumentationsprogramm machen“, sagt sie.
Die Psychotherapeutin sei überrascht gewesen, wie leicht es ist, online die notwendige Nähe und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen: „Natürlich schränkt die Technik den persönlichen Kontakt ein. Auf der anderen Seite befinden sich die Patientinnen und Patienten in ihrem bekannten Kontext, in einem Safe Space in ihrem Zuhause, und sie müssen anschließend nicht mit verweintem Gesicht die Praxis verlassen – oder Angst haben, mir beim nächsten Elternabend oder in der Sauna zu begegnen“, sagt Anna Schmied.
Übersetzung in die virtuelle Welt
Die meisten Interventionen könne man mit ein bisschen Kreativität problemlos in den virtuellen Raum transportieren: „Wenn eine Patientin oder ein Patient zum Beispiel in Tränen ausbricht, kann ich ihr oder ihm online natürlich nicht die Taschentuchbox reichen. Aber ich kann sagen: ‚Wenn ich jetzt in der Praxis wäre, würde ich Ihnen die Taschentuchbox reichen. Vielleicht wollen sie sich jetzt einfach selbst mal kurz ein Taschentuch holen?‘“
Darüber hinaus genießt sie es, Informationen im Online-Format anders weitergeben zu können als in Präsenz. „Arbeitsblätter, die wir in der Verhaltenstherapie häufig nutzen, kann ich direkt verschicken. Ich habe Zugriff auf Module unserer App, die wir gemeinsam bearbeiten können. Und die Patientinnen und Patienten können mich über den Therapiechat auch im Nachgang noch erreichen, wenn ihnen zum Beispiel noch etwas durch den Kopf gegangen oder eine Nachfrage aufgetaucht ist.“
Ohne eine funktionierende Technik und Menschen, die sie bedienen können, kann man mit Online-Therapien natürlich nicht erfolgreich arbeiten. Es sollten datenschutzkonforme Softwareprogramme genutzt werden, der GKV-Verband fordert die Nutzung speziell zertifizierter Tools. Darüber hinaus muss das Format zu den jeweiligen Patient*innen passen – eine gewisse Technikaffinität muss in jedem Fall vorhanden sein.
Nicht allein aus diesem Grund ist es wichtig, dass Online-Therapien von der Politik nicht als „Sparmodell“ eingesetzt werden, um persönliche Therapien zu ersetzen. „Psychische Erkrankungen wie die Depression, die sehr häufig auftreten, gehen häufig mit Schwierigkeiten im sozialen Bereich einher. Betroffene leiden sehr oft unter Vereinsamung und fehlenden sozialen Kompetenzen, sie brauchen echte Beziehungen und echte menschliche Kontakte“, betont Susanne Berwanger.
Ausschluss einiger Diagnosen
Möglichweise eignet sich die Online-Therapie für einige Erkrankungsbilder deshalb besser als für andere. „Manche Patientinnen und Patienten mit sozialen Ängsten präferieren die Video-Sprechstunde vielleicht unbewusst, weil sie so vermeiden können, in die überfüllte U-Bahn zu steigen. Das kann durchaus problematisch sein“, erklärt Berwanger. Anna Schmied ist überzeugt, dass das Feld der Online-Therapie erst allmählich auf unterschiedliche Diagnosen ausgeweitet werden sollte: „Wir haben mit leichten bis mittelschweren Depressionen angefangen und behandeln jetzt vorwiegend Zwangs-, Angst- und Essstörungen. Andere Diagnosen wie akute Schizophrenien oder bipolare Störungen schließen wir dagegen bisher noch aus.“
Die praktische Umsetzung der Videosprechstunden stellt dann durchaus auch mal neue Herausforderungen – vom Ausfall des Mikrofons bis zur schlechten Internetverbindung. Susanne Berwanger gibt ein weiteres Beispiel: „Wir als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten müssen während der Online-Therapie in die Kamera schauen, um der Patientin oder dem Patienten zu zeigen, dass wir im Kontakt mit ihr oder ihm sind. Gleichzeitig müssen wir aber auch auf den Bildschirm schauen, um die Reaktionen der Patientin oder des Patienten sehen zu können“. Es sei zwar möglich, hin- und her zu switchen, um beiden Aufgaben gerecht zu werden. Doch das sei vor allem eine Frage der Erfahrung.
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